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Florence and the Machine im Video "Hunger"

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FM4 Pop Diagnose: Essstörung

Gemeinsam mit dem Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Wiener AKH sprechen wir über Songs und die darin besungenen psychischen Erkrankungen. Teil 5: Florence & The Machine mit „Hunger“

Von Susi Ondrušová

Zugegeben, Essstörungen machen mir Angst. Ich sehe sofort eine bis auf die Knochen abgemagerte Frau aus meiner Nachbarschaft vor mir, wie sie im Supermarkt ihren Kinderwagen vor dem Regal mit den Windeln parkt. Ich kann nicht erkennen, wie alt sie ist. Ich erinnere mich an ihre spitzen Knöchel und die vielen Schichten Kleidung, die ihren kleinen Körper verdecken. Daran muss ich denken, als Paul Plener im FM4-Studio Platz nimmt, um über Essstörungen zu sprechen.

Ausgesucht haben wir uns für diese Folge der FM4 Pop Diagnose das Lied „Hunger“ von Florence & The Machine. Zu den beiden Hauptgruppen der Essstörungen zählen die Ess-Brech-Sucht, die Bulimie, und die Anorexie, die Magersucht. Der Song „Hunger“ ist 2018 auf dem Florence & The Machine-Album „High As Hope“ erschienen und beginnt mit den Zeilen „At 17 I started to starve myself“.

Wir alle essen und wir alle haben einen Körper, aber was bedeutet es, wenn uns unsere Einstellung zum Essen krank macht? Der Hunger im Pop-Song könnte eine Metapher sein, in Interviews hat Florence Welch gemeint, dass dieser Track autobiographisch ist. Ab wann ist Magersucht also eine Krankheit? Wer je eine Diät gemacht hat oder bei einer Vorsorgeuntersuchung war, wird mit dem Wort Body Mass Index (dem Verhältnis von Größe zu Gewicht) vertraut sein. Paul Plener: „Bei der Anorexie gibt es ein paar relativ klare Kriterien: Für das Erwachsenenalter gilt: Wer einen Body-Mass-Index von weniger als 17,5 hat und das selbst herbeigeführt hat, zum Beispiel durch extremen Sport oder eben durch Kalorien-Restriktion und wer auch eine Körper-Schema-Störung hat. Das heißt Leute, die zwar sehr dünn sind, aber über sich sagen, sie fühlen sich immer noch zu dick. Wenn dann auch noch das Hormonsystem etwas außer Kontrolle gerät, dann hat man so das Vollbild einer Anorexie. Bei Jugendlichen und auch bei Kindern, weil sie ja noch wachsen, gibt es andere Grenzwerte. Da geht es darum, dass ein gewisser Prozentsatz unterhalb des erwartbaren Gewichts in diesem Alter nicht erreicht wird oder eine Gewichtszunahme eben ausbleibt. Aber ansonsten sind die anderen Kriterien gleich: Körper-Schema-Störung und dieser selbst herbeigeführte Gewichtsverlust.“

Hilfe bei psychischen Problemen

Die Hotline für Essstörungen ist österreichweit, kostenlos und anonym unter 0800 20 11 20 zu erreichen (Mo-Do 12-17 Uhr)

Du kannst dich auch rund um die Uhr unter der Nummer 147 an Rat Auf Draht wenden. Es gibt auch Beratungen per Chat und Online.

Eine Übersicht über weitere Anlaufstellen findest du im Bereich Schnelle Hilfe auf der Website der Psychosoziale Zentren.

In der ersten Zeile im Song „Hunger“ singt Florence Welch davon, dass ihre Essstörung mit 17 begonnen hat. Paul Plener meint, Essstörungen entstehen oft viel früher, nämlich zu Beginn der Pubertät, denn der Körper verändert sich, Mädchen beginnen sich mit ihrer Weiblichkeit auseinanderzusetzen, es kommt zu einer hormonell bedingten Fett-Verteilung. „Es kommt - und das ist aber ganz normal - zu einer anderen Gewichtung. Der Körper verändert sich. Und natürlich ist dann das, was ich kontrollieren kann, um in die Fett-Verteilung einzugreifen, das Essen letzten Endes. Oder eben auch über exzessiven Sport.“

Von Essstörungen sind häufiger Mädchen und junge Frauen betroffen, das Verhältnis ist 12:1. „Also 12 mal mehr Mädchen als Jungen! Man sieht, dass sich auch die Schönheitsideale bei den männlichen Jugendlichen verschieben. Da gibt es aber oft auch ein sehr starres und kontrolliertes Essen im Zusammenhang mit Fitness. Da werden Kalorien auch sehr exakt kontrolliert, aber das Schönheitsideal ist ein Stück weit anders, nämlich ‚Ich will entsprechend auch Muskeln haben‘. Diese kommen dann weniger häufig in einen körperlich bedrohlichen Zustand, wenn sie da die Balance halten.“

Wenn Florence & The Machine singt “we all have a hunger”, dann scheint dieser Hunger im Song nicht durch Essen zu stillen zu sein. Warum hungern junge Mädchen also? Ist es ähnlich wie bei der Selbstverletzung, wo es darum geht, Druck rauszunehmen? Paul Plener: „Die Kontrolle, die ich über Essen oder über den Sport herbeiführen kann, ist letztendlich eine Kontrolle über meinen Körper, über mein Leben. Das hat auch viel mit einem Bedürfnis zu tun, die Dinge unter ‚Kontrolle zu halten‘. Es ist schwer, zu sagen ‚es gibt diesen EINEN Grund‘. Denn tatsächlich gibt es den nicht, das ist immer eine Gemengelage: das Thema Pubertät, körperliche Veränderungen und was das auch bedeutet. Letzten Endes muss man aber auch immer sagen, dass bei Menschen, die es schaffen, ihre Kalorienzufuhr so stark zu beschränken oder so massiv zu trainieren, auch Perfektionismus eine Rolle spielt, hohe Leistungsbereitschaft und der Gedanke ‚sonst schaffe ich das auch nicht!‘ Und letzten Endes ist es oft auch eine Dynamik, die sich dann verselbstständigt. Man will einem gewissen Körperideal genügen, und das ist in unserer Gesellschaft ein anorektisches Körper-Ideal. Man bekommt dann auch Bestätigung dafür, also zum Beispiel ‚Toll! Abgenommen! Wie hast du das geschafft?‘ Und letzten Endes ist das dann etwas, was einen motiviert, weiterzumachen.“

Paul Plener

Radio FM4

FM4 Pop Diagnose onair:

Susi Ondrušová und Paul Plener im Gespräch über Songs und psychische Erkrankungen am Mittwoch, 8.Dezember von 00-01 auf FM4 und im FM4 Player.

Die Folgen von Nahrungsmangel reichen von Haarausfall bis zu Herz/Kreislauf-Problemen. Patient*innen mit Anorexie suchen oft sehr spät und nicht immer freiwillig Hilfe auf. Meistens dann, wenn der Druck aus ihrer Umgebung zu groß wird: Wenn man nach dem Unterricht zum Beispiel von der Turnlehrerin angesprochen wird, weil jede einzelne Rippe zu sehen ist. Es sei keine Seltenheit, wenn auf Paul Pleners Station Patient*innen mit einem Body-Mass-Index von 10 oder 11 kommen, um auf Grund der oben erwähnten Körper-Schema-Störung, einem der beiden Kriterien für die Diagnose einer Essstörung, und trotzdem sagen: „Ich fühle mich zu dick“.

Anorexie kann therapeutisch gut behandelt werden. Wie bei den meisten psychischen Erkrankungen gilt: Je früher eine Behandlung beginnt, desto besser. Was sind also die Therapie-Schritte bei einer Krankheit, bei der es um Kontrolle, Selbstbeherrschung, Autonomie und Perfektion geht? Paul Plener erwähnt zum Beispiel Genuss-Training und: Einkaufen gehen!

„Worauf hätte man vielleicht Lust? Was hat man sich versagt? Worauf würde man aber eigentlich als erstes wieder ansprechen, wenn man es sich erlauben würde? Natürlich geht es in der Psychotherapie auch viel darum, zu hinterfragen: Wo kommen diese Einstellungen her? Was für Ideale habe ich vermittelt bekommen? Aber auch: Wo kriege ich sonst noch das Gefühl, dass ich eigentlich etwas kann und etwas wert bin? Es sind meist verschiedene Themen und es geht aber auch immer einher mit einem ‚Essen müssen‘. Das hört sich sehr, sehr hart an. Aber wir reden über die psychiatrische Erkrankung mit der höchsten Todesrate von allen psychischen Erkrankungen und natürlich muss man auch zunehmen! Das ist am Anfang etwas, das man gar nicht will. Es gibt relativ klare Essens-Schemata, angestrebt ist eine Gewichtszunahme zwischen einem halbem Kilo bis zu einem Kilo pro Woche. Das ist viel, wenn man sich monatelang dazu gebracht hat, dass man die Kilos eben reduziert. Wir merken dann aber, dass mit der Zunahme langsam auch wieder neue Gedanken und neue Themen kommen. Das ist oft spannend zu sehen, dass am Anfang gedanklich wenig passiert und mit dem Essen und mit der Gewichtszunahme entstehen dann auch wieder Ressourcen!“

Vielleicht kann man sich das wie eine Nebelwand vorstellen, die sich langsam lichtet. Über einen langen Zeitraum beschäftigt man sich in seinem Alltag mit dem alles überschattenden Thema Kalorienverbrauch und dem Nicht-Essen. Mit einer passenden Therapie kommt eine Art Durchblick auf das, was hinter der Magersucht liegt und man hat wieder „Ressourcen“, sich auf schöne Themen zu konzentrieren, die man vernachlässigt hat: Hobbies oder Freundschaften.

Florence Welch hat „Hunger“ mit 32 Jahren geschrieben, vier Jahre nachdem sie auch Alkohol und Drogen abgeschworen hat. In Interviews meinte sie, Songs helfen ihr dabei, sich selbst zu verstehen, so direkt wie in „Hunger“ hat sie ihre Essstörung nicht mal mit ihrer eigenen Familie besprochen. In einem Artikel für die Vogue fasst sie das Leben mit einer Essstörung mit den Worten „tyranny of the scales“ zusammen. Die „Tyrannei der Waage“ hinter sich zu lassen, fühlte sich für Florence Welch wie ein größerer Erfolg an, als Headliner am Glastonbury Festival zu sein.

“You make a fool of death with your beauty”, singt sie in “Hunger”. Sich selbst zu akzeptieren in einer Zeit von Schönheits-Trends, Fitness und Diät-Wahn ist nicht immer einfach. Natürlich gibt es auf Insta, TikTok, Snapchat auch den Hashtag #BodyPositivity und Accounts, die absurden Trends wie Bikini Bridge oder Thigh-Gap-Challenges entgegenwirken, aber was kann Paul Plener aus seiner Erfahrung erzählen, was Social Media mit unserem Verhältnis zum eigenen Körper macht?

„Also prinzipiell muss man sagen, dass sich das Schönheitsideal der Menschheit schon seit gut 15 Jahren etwa im anorektischen Bereich bewegt!“, meint er und verweist auf den Body-Mass-Index der Miss World-Wahl und entsprechende Studien dazu. „Also das, was wir aktuell als ‚schön‘ sehen, ist etwas, was nicht gesund ist, aber was gesellschaftlich als schön gesehen wird. Und natürlich ist wie bei vielen Dingen Social Media da auch ein Brandbeschleuniger.“ Die Kombination einer Krankheit, bei der das Selbstwertgefühl vom Gewicht und der Figur abhängig ist und einem Tool, bei dem man sich Zuspruch über Kommentare und Likes holt, ist problematisch. (Mehr dazu hier).

Ebenfalls problematisch ist die übermäßige Auseinandersetzung mit gesunder Ernährung: „Orthorexie beschreibt prinzipiell eine Auseinandersetzung mit Lebensmitteln und eigentlich die Idee, ‚sich bewusst gesund‘ zu ernähren. Oft sehen wir aber, dass die Anorexie sich aus einer Orthorexie so langsam weiterentwickelt. Wenn ich anfange, Kalorien zu zählen, und mir zu überlegen, wie ich, obwohl ich normalgewichtig bin, noch mehr optimieren kann, dann wird’s halt gefährlich. Aber prinzipiell ist das ein Thema, das viele umtreibt: Vegan essen, vegetarisch essen, Nährstoffe und wie passe ich auf, dass ich alles bekomme, was ich brauche? Das ist vernünftig und prinzipiell ist gar nichts dagegen einzuwenden, aber das ist oft der Nährboden, aus dem sich dann eine anorektische Geschichte weiterentwickelt.“

Florence Welch hat über ihre Essstörung geschrieben: „An eating disorder wants you silent, ashamed, isolated. It will tell you anything to keep you all to itself. It’s probably telling you right now that you shouldn’t say its name, that it’s your friend. But your body is more than a thing to be looked at, it works with you, not against you. You do not beat your own heart.”

Das schönste Kompliment für eine Musikerin ist nicht nur, wenn in einer ausverkauften Stadthalle zehntausende Menschen deine Lieder laut mitsingen, sondern auch, wenn Fans sagen „Du sprichst mir aus der Seele“ und: „Dein Song hat mir geholfen“.

„Wir müssen anfangen uns zu trauen, das anzusprechen was sehr, sehr augenscheinlich ist!“, meint Paul Plener auf die Frage, wie man am besten reagieren soll, wenn man vermutet, dass jemand aus dem Freundeskreis oder der Familie eine Essstörung hat oder in eine hineingleitet.
„Es sind ja sehr private Themen und dann ist es oft so, dass man nicht genau weiß, ‚Wie spreche ich es jetzt an? Ist das dem anderen unangenehm?‘ Das will man ja auch nicht! Aber ich glaube, es ist gut, sich anzugewöhnen, dass man das, was einem auffällt, auch direkt benennt. Das muss nicht intrusiv sein. Der andere kann die Kommunikation dann auch anders gestalten und sagen ‚Es geht dich ehrlich gesagt nichts an!‘ Das ist auch legitim in dem Zusammenhang. Aber wenn einem auffällt, dass jemand immer dünner und dünner wird, ist es wirklich gut, das anzusprechen!“

Dass Florence Welch 2018 diesen persönlichen Song veröffentlicht hat und auch über ihre Essstörung gesprochen hat, ist mutig und ihr auch nicht leichtgefallen. Über Social Media sagte sie einmal: „It´s a handy tool for digging your own personalized shame hole”, aber sie liebe es, mit ihren Fans und ihrer Community in Kontakt zu sein. Dass sie über ihre mentale Gesundheit schreibt, ist inspirierend. Sie ist nämlich nicht perfekt, aber sie lässt uns teilhaben an ihrer Reise und so wissen wir, dass für sie heute an Stelle von Hunger die Lebensfreude im Mittelpunkt steht!

FM4 Pop Diagnose onair

Susi Ondrušová und Paul Plener im Gespräch über Songs und psychische Erkrankungen am Mittwoch, 8.Dezember von 00-01 auf FM4 und im FM4 Player.

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