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Buchcover der Graphic Novel "Parallel" von Matthias Lehmann. Zwei Männer liegen gemeinsam im Bett

Matthias Lehmann / Reprodukt

Der Comic „Parallel“ erzählt von einer zerrissenen Biografie

Die schwarz-weiß gezeichnete Graphic Novel „Parallel“ erzählt von Karl Kling, der im Nachkriegs-Deutschland über Jahrzehnte seine Homosexualität verstecken muss und seine Lebensgeschichte später in einem Brief an seine Tochter aufschreibt.

Von David Riegler

Auf den ersten Blick wirkt Karl Klings Leben wie ein kleinbürgerlicher Traum. Nach seinem Einsatz im Krieg heiratet er die Tochter eines angesehenen Kleinstadt-Bürgermeisters und gründet eine Familie, die traditioneller und patriarchaler nicht sein könnte. Das junge Paar bekommt ein Kind und der Schwiegervater besorgt Karl einen guten Job, wodurch er seine Rolle als Familienoberhaupt und -versorger manifestiert. Doch hinter der Fassade der konservativ-idyllischen Familie steckt ein Mann, in dem ein innerer Konflikt brodelt, der all das zerstören könnte.

„Aber irgendetwas war da. Irgendetwas trieb mich um und hat mich allen Warnungen zum Trotz immer wieder von meiner Familie weggezogen. Ich verspürte eine Sehnsucht nach etwas, das ich selbst nicht greifen konnte.“

Die Suche nach dem, was diese Sehnsucht auslöst, bringt Karl in brandgefährliche Situationen. In der Kneipe, in der er immer mehr Zeit verbringt, küsst er betrunken im Klo einen anderen Mann, der ihn an einen Soldaten aus dem Krieg erinnert. Dieser kurze Moment der betrunkenen Unachtsamkeit ist der Moment, der die Katastrophe ins Rollen bringt, denn Karl Kling lebt zu einer Zeit, in der es nicht nur gesellschaftlich geächtet ist schwul zu sein, sondern auch strafbar.

Zum ersten Mal Romantik und Intimität

All den Gefahren zum Trotz wird das Bedürfnis, sein wahres Ich zu erkunden, immer stärker und es bringt ihn dazu, regelmäßig zum See zu fahren, wo er auf einen Mann trifft, der sein Interesse weckt. Mit ihm erlebt Karl zum ersten Mal authentische Romantik und Intimität. Endlich hat er das gefunden, wonach er viele Jahre gesucht hat. Auch wenn dieser Moment ein Befreiungsschlag für Karl Kling ist, wirken die Zeichnungen mit den vielen Schatten düster und bedrohlich. Man spürt förmlich, dass die Tragödie auf Karl wartet.

Innerhalb kürzester Zeit entstehen Gerüchte vom unsittlichen Treiben des Bürgermeister-Schwiegersohns und man wirft Karl vor, die Familienehre beschmutzt zu haben. Er versucht, alles zu leugnen, doch es hilft nicht, zu groß ist der Skandal und zu eindeutig sind die Beweise. Seine Frau verlangt die Scheidung und sein Schwiegervater wünscht sich die Zeit zurück, in der man Schwule einfach „an die Wand gestellt“ hat. Karl wird von einer Gruppe junger Männer beschimpft und verprügelt, denn die Liebe zwischen zwei Männern wird als Angriff auf die patriarchale Gesellschaft gewertet und dementsprechend bestraft.

Buchcover der Graphic Novel "Parallel" von Matthias Lehmann. Zwei Männe

Matthias Lehmann / Reprodukt

„Parallel“ von Mathias Lehmann ist im Reprodukt-Verlag erschienen.

Auch die staatliche Verfolgung folgt auf dem Fuß: Karl Kling wird eingesperrt und schließlich aus der westdeutschen Kleinstadt gejagt, in die er nie wieder zurück kann. Er flieht und steigt in einen Zug Richtung Osten nach Leipzig. Doch Karl kennt nur ein einziges Lebensmodell, aus dem er sich nicht traut, auszubrechen, darum wiederholt sich der Teufelskreis. Er heiratet wieder eine Frau, sie bekommen eine Tochter und er sucht nachts immer öfter die versteckten Plätze auf, an denen sich schwule Männer treffen. Seine gebeutelte Ehe wird noch komplizierter, als sein Liebhaber bei den beiden einzieht und auch eine Beziehung mit seiner Frau eingeht.

Ein Brief als Lebensbeichte

All diese Erlebnisse erzählt Karl Kling als alter Mann in einem Brief an seine Tochter Hella. Die beiden sind längst entfremdet und haben seit vielen Jahren den Kontakt verloren, weil Karl sich nie wirklich um seine Familie bemüht hat. Er lebte immer zerrissen zwischen zwei Welten und versteckte sein wahres Ich vor einer Gesellschaft, die dieses Ich niemals akzeptieren würde. Erst in der Einsamkeit des Alters, nach seinem Ruhestand, erkennt er, was er an seiner Tochter hat.

„Mein ganzes Leben lang wusste ich nie so recht, wo ich hingehöre, geschweige denn zu wem. Erst als Du aus meinem Leben verschwunden bist, habe ich erkannt, wie wichtig du mir bist.“

Die Graphic Novel „Parallel“ schafft es mit eindrucksvollen Zeichnungen, dass man als Leser*in mitfühlt, immer wieder hofft, dass sich eine Möglichkeit auf ein freies Leben auftut und dann schließlich akzeptiert, dass die harte Lebensrealität im Nachkriegsdeutschland keinen Platz für Menschen wie Karl Kling lässt. Geschickt wird Karls Lebensgeschichte mit historischen Ereignissen, wie der Teilung Deutschlands, verwoben. Karls Geschichte zeigt, dass es weder im Westen noch im Osten Platz für offene Homosexualität gab.

Fiktionalität und reale Ereignisse verschwimmen

Autor Matthias Lehmann hatte die Idee für das Buch von der Familiengeschichte seiner Freundin: „Bei einem Gespräch mit meiner Freundin über unsere Großeltern erzählte sie mir, dass ihr Opa homosexuell gewesen sei. Trotzdem war er zweimal verheiratet. Mich interessierte die Spannung, die wohl in ihm gewesen sein muss.“ Da es aber zu viele Geheimnisse und nicht erzählte Momente gab, hat sich Lehmann dazu entschieden, ein fiktionales Buch zu machen und durch eine aufwendige Recherche in diese Zeit einzutauchen.

Lehmanns Arbeit hat sich bezahlt gemacht, denn die Biografie von Karl Kling wirkt ausgesprochen glaubwürdig und nachvollziehbar. Er ist nach außen ein durchschnittlicher Mann, der sich großteils unauffällig in die Gesellschaft eingliedert. Er genießt es, mit seinen Kollegen nach der Arbeit Bier zu trinken und eine angesehene Familie zu haben und es zerreißt ihn förmlich, dass er eine Seite hat, die all dem scheinbar unvereinbar gegenübersteht.

„Parallel“ ist eine wichtige Erinnerung daran, dass die Unterdrückung von queeren Menschen nicht lange zurückliegt und der Staat mit der systematischen Verfolgung dazu geführt hat, dass sich viele Menschen ihr ganzes Leben verstecken mussten. Karl Kling schafft es nur ein einziges Mal, zu sich zu stehen und seine beiden Welten geeint zu erzählen, und zwar in diesem Brief an seine Tochter Hella.

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