FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Britain's Prime Minister Boris Johnson walks out to meet Oman's Sultan in Downing Street in London on December 16, 2021

Tolga Akmen / AFP

ROBERT ROTIFER

Die Gartenparty an dem Tag, als Simons Mutter starb

Kleine Notiz aus der britischen Omikron-Isolation. Nie hätte ich gedacht, dass es freudlos sein würde, Boris Johnsons Niedergang beizuwohnen.

Von Robert Rotifer

In einer anderen Welt würde ich das hier jetzt aus Wien schreiben, hatte nämlich schon vorgehabt, über die Feiertage zu euch zu kommen. Aber daraus wurde nichts, nachdem die 19-jährige in der Familie sich (mutmaßlich) im Londoner Student*innenheim trotz doppelter Impfung eine Omikron-Infektion geholt hat (Anm.: Verharmlose hier sicher nicht, aber bitte keine Sorge um die Tochter. Ihr Krankheitsbild ist, so wie auch bei allen anderen, von denen ich bisher anekdotisch wie direkt gehört habe, vergleichbar mit einer milderen Bronchitis).

Die emotionale Diskussion, ob das Grenzendichtmachen auf Dauer ein geeigneter Zugang ist, erspar ich uns jetzt einmal.

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Freut mich aber sehr, dass es neben dem manchmal doch bisschen xenophoben Unterton, den ich auf der österreichischen Seite meiner Timeline zu diesem Thema so mitkriege, auch eine derart unübersehbare, breite Bewegung für eine vom reichen Teil der Welt finanzierte, von der Pharma-Industrie durch Patentverzicht mitgetragene, globale Impfkampagne gibt, die die Menschheit endlich solidarisch als Ganzes be- und so der Entwicklung weiterer Varianten vorausgreift (SARKASMUS!! Obwohl, es gab ja immerhin einen Vorstoß von Gordon Brown, falls sich an den noch wer erinnert).

Hier bei uns auf der Insel jedenfalls, wo heute jenseits der 90.000 Neuinfizierte gemeldet wurden (60 Prozent mehr als in der Woche zuvor), steht das ohnehin schon akut marode Gesundheitssystem wieder einmal knapp vor dem Zusammenbruch (9 von 10 Spitals-Patient*innen sind übrigens ungeimpft). Und während die Regierung sich nicht zum Zusperren durchringen kann, tun die Theater, Museen und sonstigen Venues dies gleich selbsttätig, siehe diesen Twitter-Thread des BBC-Reporters Lewis Goodall:

Der Widerstand gegen einen Lockdown (hier gern euphemistisch „circuit breaker“ genannt) kommt dagegen hauptsächlich aus dem rechts“libertären“ Flügel der Regierungspartei. Schon die derzeitigen Mindestmaßnahmen wie eine Rückkehr zum Maskentragen schafften es letzte Woche überhaupt nur mit Hilfe der Labour Party durchs Unterhaus des Parlaments.

Das hat unter anderem damit zu tun, dass die mit ihrem üblichen sozialen Verantwortungsbewusstsein agierende Tory-Rechte in ihrer Opposition zur vorgeblichen Freiheitsberaubung die passende Gelegenheit gefunden hat, den Buffo-Churchill, den sie doch gestern alle noch so lieb hatten, ordentlich unter Druck zu setzen und auf mittlere Sicht loszuwerden.

Personifiziert wird das hinter diesem internen Zwist stehende Venn-Diagramm politischer Leidenschaften etwa von der Figur des jüngst - zumindest per Vorwand - als Protest gegen die Anti-Covid-Maßnahmen zurückgetretenen Hardline-Brexit-Ministers Lord Frost. Komisch, wie der fiebernde Patriotismus dieser Leute immer mit einer erstaunlichen Kulanz in Sachen Bewahrung von Menschenleben im eigenen Land einhergeht.

Dazu ein amüsanter, kleiner Ausschnitt aus den auffällig performativen Erregungen der rebellisch rechten Tory-Whatsapp-Chat-Gruppe „Clean Global Brexit“, kulminierend im Rauswurf der (noch) Johnson-loyalen Kulturministerin Nadine-Dorries aus selbiger durch Steve Baker, einen der wortführenden Ober-Rebellen (der Name der Gruppe ist eigentlich auch gut. „Clean Global Brexit“ klingt ja genau genommen so, als sollte Britannien sich sauber vom ganzen Globus entfernen, aber sowas fällt hier schon gar niemand mehr auf):

Die Rebellion der konservativen Freiheitskämpfer*innen kommt jedenfalls nicht von ungefähr zu genau in einer Phase, da das Vertrauen in die Regierung Johnson dank einer nicht abreißenden Kette von Skandalen täglich neue Tiefpunkte erreicht.

Schon am 10.12. hatten laut Umfrage zwei Drittel der Bevölkerung ein negatives Bild von ihm.

Dabei war da noch nicht einmal bekannt, dass Johnson an den berüchtigten Pizza-Parties in seiner Residenz während des Lockdowns 2020 selbst teilgenommen hatte. Ganz zu schweigen von der vorgestrigen Veröffentlichung eines dem Guardian zugespielten Fotos, das den Premier und sein Team beim Relaxen bei Wein und Käse im Garten der Downing Street zeigt - aufgenommen Mitte Mai des vergangenen Jahres, als Normalsterbliche nur eine Einzelperson im Freien bei zwei Meter Sicherheitsabstand treffen durften.

Wie die Rechtfertigung aus Regierungskreisen, es habe sich dabei bloß um ein legitimes Arbeitstreffen gehandelt, beim gemeinen Volk durchschnittlich so ankommt, drückt vielleicht am besten der folgende Tweet des dieser Kolumne namensgerecht lieben Singer-Songwriters Simon Love aus.

Simon verlor letztes Jahr seine Mutter an Covid, ohne sie ein letztes Mal auf dem Sterbebett sehen zu dürfen. Und zwar an genau jenem Tag, da das bewusste Foto in Downing Street (mutmaßlich vom Balkon des nebenan residierenden Schatzkanzlers aus) geschossen wurde:

Wenn der Ruf einer Regierung einmal auf dem Status „absolute showers of shit“ angelangt ist, ergibt sich ein Dilemma, das euch bekannt vorkommen mag oder nicht: Sobald ein Regierungschef, der potenziell unpopuläre Maßnahmen zur Virusbekämpfung ohnehin schon beharrlich vor sich her schiebt, einmal jegliche Glaubhaftigkeit und moralische Autorität verloren hat, geht nämlich gar nichts mehr.

Dann gibt es in Wahrheit nur mehr die Hoffnung auf selbstorganisierte Solidarität in der Bevölkerung. Doch selbst die hat ihre Grenzen, zumal das örtliche Kurzarbeitsmodell längst ausgelaufen ist und es gleichzeitig immer noch kein brauchbares Krankengeld für Selbstisolierende gibt.

Und wie soll die/der Durchschittspendler*in sich auch selbst verantwortungsvoll verhalten, wenn sie/er - so wie ich neulich - im vollgepferchten (weil zur Kostensparnis der Bahngesellschaft kurzgeführten) Zug zwischen Kent und London steht und dabei die geradezu spöttische Durchsage des Zugbegleiters vernimmt: „There is no social distancing on this train.“

Das sind dann halt die Szenen aus dem echten Leben, an die du zwangsläufig denken musst, wenn du von distanzlosen Partys in der Parallelwelt Downing Street liest.

Hätte mir jedenfalls nie gedacht, dass es so freudlos sein könnte, Boris Johnsons Niedergang beizuwohnen.

Wenn ihr dagegen in den nächsten Tagen was zum Feiern habt, wünsche ich selbstverständlich nur das Beste. Aus der Ferne halt.

PS: Als möglicher Soundtrack dazu böte sich frisch im 7-Tage-Player die zweite Hälfte meiner diesjährigen Heartbeat-Jahresrückschau von gestern Nacht an.

Aktuell: