Hauptsache dagegen: Ein Versuch über antiautoritäre Versuchungen
Von Thomas Edlinger
Im Jänner 2021 stürmte ein bewaffneter Mob das Kapitol in Washington. Die Streitkräfte Chinas und Russlands wurden in Alarmbereitschaft versetzt. Es waren gefährliche Stunden für die Demokratie in Amerika und die Welt. Viele von uns haben damals den Kopf geschüttelt. Diese Amis: Rednecks. Waffennarren. Fox-News-geschädigte Kinder mit Atomwaffen. Facebook-Freaks.
Trump ist nur vorläufig weg vom Fenster, denn er plant sein Comeback. Hart am Rand der Legalität und zur Not auch ohne lästige Verpflichtungen auf bislang übliche demokratische Spielregeln und aufbauend auf der abstrusen Verschwörungsschwurbelei, es sei ihm die Wahl gestohlen worden. Beim versuchten Staatsstreich der White-supremacy-Gefolgsleute waren auch die Musiker John Maus und Ariel Pink anwesend.
John Maus mag schwer zu fassen sein, aber er ist wohl kein tumber Trump-Fan, der das weiße Amerika wieder groß sehen will. Der Musiker mit dem Faible für Eighties-Echos im Sound und Verausgabungsgesten auf der Bühne untersuchte in seiner politikwissenschaftlichen Dissertation von 2014 musikalische und andere Kommunikationsformen in heutigen „Kontrollgesellschaften“ im Sinn von Gilles Deleuze. Er beschäftigte sich dabei auch mit einer Form von Politik, die von Annahmen ausgeht, die „mit Sicherheit unvernünftig sind“. Findet sich da ein Link zur beliebten Parole von Tocotronic, wonach pure Vernunft niemals siegen darf?
Im Herbst dieses Jahres ziehen trommelnde Demonstrant*innen durch die österreichischen Städte. Sie blockieren Krankenhauszufahrten und wettern gegen „Impfzwang“ und die „Coronadiktatur“. Auch hier steht die Freiheit hoch im Kurs. Krause Vorstellungen über den medizinisch-industriellen Komplex verbinden sich mit Wutreflexen gegen eine angeblich verbotsfetischistische Politik.
Freiheit heißt in diesem Verständnis radikale Autonomie, die Diktatur des Selbst gegen die Demokratie der anderen. Ich und niemand sonst entscheidet darüber, was ich mit meinem Körper mache.
Allergische Reaktionen richten sich gegen alles, was eine bekannte Autorität sein will und als äußerlicher Zwang empfunden wird: der Staat, der Journalismus, die Medizin. Die Wissenschaft steht generell im Verdacht, eine Herrschaftsform zu sein. Die Politik gilt als korruptes Spiel, als ein Medium der Unterdrückung des Volkes, in dessen Namen auffällig oft gesprochen wird. Österreichfahnen wehen auf den Straßen, so wie in den USA die Stars-and-Stripes-Flaggen.
Meinungen zählen in diesem Milieu als authentische Einschätzungen „von unten“, peer-review- gesicherte Evidenz gilt als manipulierte Mogelpackung „von oben“. Fakten sind auch nur Narrative, frei nach den wissenschaftskritischen Abwertungen in postmodernen Wahrheitsspielen und anderen vernunftkritischen Einwürfen der Philosophie. Erzählungen kann man glauben oder auch nicht. Klimakrise oder Klimalüge? Impfeffekt oder Impfpropaganda? Die einen sagen so, die anderen so. „False balance“ heißt der medienwissenschaftliche Fachbegriff zur falschen Gewichtung aussagefähiger Standpunkte.
Über die Schwierigkeit, angesichts solcher Verschärfungen ressentimentgetriebener und im digitalen Echoraum befeuerter Meinungskonstellationen überhaupt noch miteinander in ein sinnvolles Gespräch zu kommen, ist schon viel Ratloses gesagt worden. Der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl schreibt, „dass die Feindseligkeit aller gegen alle nicht nur zu einem erfolgreichen Geschäftsmodell, sondern zu einem überaus zukunftsfähigen Gemeinschaftsgefühl geworden ist“.
Das ist nun doch eine dialektische Pointe, die man sich auf der Zunge zergehen lassen kann: Spaltung erzeugt Communities. Die freiwillige Absage an ein (immer schon problematisches und willkürliches) Wir bildet den Nährboden für das neue Wir der Sezessionist*innen. Ohne Maske sind wir wer. Und wir sind geeint. Was eint die Losgelösten noch?
Auf der Ebene der Argumente nicht allzu viel: Impfunwillige bieten eine breite Palette von Motivationen für ihre Verweigerung an – von sozialdarwinistischen Positionen zum Lebensrecht der Stärkeren bis zur Hypermoral derer, die sich nicht auf Kosten des globalen Südens in der Impfabfolge vordrängen wollen.
Was aber vielleicht zusammengeht zwischen rechten, radikal liberalen, ökoesoterischen und gefühlslinken Haltungen ist das reflexhafte Nein gegen alles, was nach Bevormundung aussieht. Der nanny state, der Gouvernantenstaat ist das gemeinsame Feindbild. Darin aufgehoben ist alles, was individuelle Entscheidungen einhegen oder gar eine narzisstische Kränkung mit sich bringen könnte. So erscheint die Politik der Maßnahmen als Mainstream, und die Demos gehen als Widerstand durch.
Dagegen-Sein ist sexy. Deshalb, so könnte man spekulieren, finden sich unter den Impfgegner*innen sicher auch viele Rauchverbotsgegner*innen oder Menschen, die gegen Einschränkungen des Autoverkehrs oder gegen Klimakrisenmaßnahmen mobilisierbar wären. Der böse Witz an der Sache: Die Zurückweisung der Bevormundung funktioniert nur dann, wenn die Freiheiten anderer massiv eingeschränkt werden. Auf Transparenten der Impfgegner*innen war dann auch sinngemäß zu lesen: Kümmert euch um die Sicherung der EU-Grenzen und lasst dafür gefälligst uns und unsere Körper in Ruhe.
Die, die das Außen des neuen Wir der Sezessionist*innen markieren, sollen sich nicht frei bewegen dürfen, damit das andere, bitte endlich ungegängelte Wir der Unbeugsamen sich bestärken und berauschen kann. Die Maske gilt als Symbol der Sklaverei, aber das Mittelmeer soll ein Grab für jene bleiben, die sich der Verelendung entziehen wollen.
Zugleich, und das ist noch eine List der Impfskepis, kommt der antiautoritäre Reflex, der ja in den befreiungssehnsüchtigen Sixties links gepolt war, selbst nicht ohne Rekurs auf andere, unverbrauchte Autoritäten aus. Die Soziolog*innen Nadine Frei und Oliver Nachtwey sprechen in einer Studie zu den Coronaprotesten von einer „Idealisierung alternativer Autoritäten“. Schulmedizin ist böse, Alternativmedizin ist gut. Die Pharmaindustrie ist profitgierig, der Esoterikladen verkauft zum Selbstkostenpreis. Totimpfstoffe sind Gift, Naturromantik ist heilig. In Mitteleuropa funktioniert diese Logik besonders gut.
All das läuft unter dem subversiv gedeuteten Label „Querdenken“. Querdenker*innen bilden Querfronten, die politisch schwer einschätzbar sind. Nachtwey begreift die Querdenker*innen im Anschluss an die Lebensreformbewegung des 19. Jahrhundert oder die Anfänge der deutschen Grünen als die erste wirklich postmoderne Bewegung.
Die Beliebigkeit der Argumente ist da kein Problem, sondern zentral: Anything goes – alles geht, solange man dagegen ist.
I would prefer not to. Das ist die berühmte Standardformel des Schreibers Bartleby, einer in kulturlinken Kreisen einige Zeit zum Held der stillen Negation stilisierten Figur in einer Erzählung Herman Melvilles. Jetzt brauchen wir Bartlebys, die das Verweigern verweigern.
Die Im Sumpf Jahrescharts 2021
Thomas Edlinger
1. | Cassandra Jenkins | An Overview On Phenomenal Nature | |
2. | Kizis | Tidibadide/Turn | |
3. | Jasss | A World Of Service | |
4. | Dean Blunt | Black Metal 2 | |
5. | Circuit des Yeux | -io | |
6. | Masha Qrella | Woanders | |
7. | Ja, Panik | Die Gruppe | |
8. | Helm | Axis | |
9. | Tirzah | Colourgrade | |
10. | Arooj Aftab | Vulture Prince |
Fritz Ostermayer
1. | Lingua Ignota | Sinner Get Ready | |
2. | Kìzis | Tidibàbide / Turn | |
3. | Gewalt | Paradies | |
4. | Moderate Rebels | If You See Something That Doesn't Look Right, Part 1, 2, 3 | |
5. | White Pink Brown | Lakes & Screens | |
6. | Low | Hey What | |
7. | Dave | We're All Alone In This Together | |
8. | Kreisky | Atlantis | |
9. | Black Dresses | Forever In Your Heart | |
10. | Murena Murena | Take Care Of Me |
Katharina Seidler
1. | Low | Hey What | |
2. | The Notwist | Vertigo Days | |
3. | Conny Frischauf | Die Drift | |
4. | Ja, Panik | Die Gruppe | |
5. | Black Country, New Road | For the first time | |
6. | ZINN | ZINN | |
7. | Anika | Anika | |
8. | Bobby Would | World Wide World | |
9. | Dry Cleaning | New Long Leg | |
10. | Lost Girls | Menneskekollektivet |
Publiziert am 26.12.2021