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Drei Kreuze auf einem Hügel

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Buch

Menschen-Experimente als Therapie

In dieser faszinierenden Fallstudie von 1964 beschreibt der US-Sozialpsychologe Milton Rokeach seine Bemühungen, drei an paranoider Schizophrenie leidende Patienten zu therapieren. Rokeachs Behandlungsmethoden sind, gelinde gesagt, unkonventionell.

Von Boris Jordan

Joseph Cassel ist Jesus Christus, der einzige Gott, es gibt keine anderen Götter neben ihm. Joseph ist Insasse der Psychiatrischen Klinik in Ypsilanti, Michigan.
Clyde Benson ist Jesus Christus, der einzige Gott, es gibt keine anderen Götter neben ihm. Clyde ist Insasse der Psychiatrischen Klinik in Ypsilanti, Michigan.
Leon Gabor ist Jesus Christus, der einzige Gott, es gibt keine anderen Götter neben ihm. Leon ist Insasse der Psychiatrischen Klinik in Ypsilanti, Michigan.

Die einzigen Götter sind unter anderem deshalb von ihrer göttlichen Einzigartigkeit überzeugt, weil sie einander noch nie begegnet sind – doch was, wenn dies passiert?

Die „Drei Christi aus Ypsilanti“ haben sämtlich eine lange Behandlungszeit in geschlossenen Abteilungen hinter sich. Die drei gehören verschiedenen Generationen an, haben verschiedene soziale und familiäre Hintergründe; verschiedene Ausprägungen von Schizophrenie, Paranoia oder Narzissmus waren bei ihnen diagnostiziert worden. Sie haben verschiedene Begeisterungen und Komplexe, verschiedene Strategien, sich ihre Umwelt zu erklären und sich in einer teilweisen Realität wiederzufinden, verschiedene Arten, ihrer Göttlichkeit Ausdruck zu verleihen. Sie haben nur gemeinsam, dass sie davon überzeugt sind, Jesus Christus zu sein.

Cover von "Die Drei Christi aus Ypsilanti"

Matthes & Seitz Berlin

Die deutschsprachige Ausgabe von „Die Drei Christi aus Ypsilanti“ (Übersetzung von Kevin Vennemann) ist im Verlag Matthes & Seitz Berlin erschienen.

Sozialpsychologische Experimente

Und die Götter sind nicht nur „verrückt“, sie haben noch ein spezielles Problem: Das Problem heißt Milton Rokeach. Der Sozialpsychologe hat gemeinsam mit dem Stab der Klinik Ypsilanti das Experiment gestartet, die drei Patienten, bei denen paranoide Schizophrenie diagnostiziert wurde, zusammenzubringen. Auf sein Ansinnen werden sie in einen gemeinsamen Trakt der Klinik verlegt, teilen sich einen Arbeitsplatz und treffen sich alle zwei Tage zu einem Gespräch.

Die Anregung hat Rokeach aus einem Artikel im „Harpers Magazine“: Das Experiment hatte schon einmal stattgefunden. In einer Psychiatrischen Klinik in New York hatten sich zwei Patientinnen für die Jungfrau Maria gehalten und wurden nicht nur zusammen behandelt, sondern mussten sich auch ein Zimmer teilen. Das Ergebnis: Eine der beiden Patientinnen hatte es sich anders überlegt, sie könne ja nun nicht die Jungfrau Maria sein, wenn diese doch jeden Tag neben ihr sitze und mit ihr spräche – diese Gespräche hatten sie davon überzeugt, doch nicht die heilige Jungfrau zu sein; sie wurde als „geheilt“ entlassen.

Zwei Jahre und eineinhalb Monate sollte die gemeinsame Behandlung der drei Christi dauern. Das daraus resultierende Buch „The Three Christs of Ypsilanti“ hat Milton Rokeach eigentlich als Fallstudie für Fachkolleg*innen angelegt. Daher liest sich der Text etwas mühsam, die Leser*innen sind in eine Art medizinische Voyeursposition gezwungen – allein, es gibt nicht sehr viel zu sehen. Das Buch ist kein Roman, es folgt nicht den erwarteten Erzählstrukturen. Solange die Gruppentherapien mit den drei Männern der Hauptfaden sind, passiert eigentlich nicht viel. Die drei Christi leugnen jeweils die Existenz der anderen, behaupten voneinander, „verrückt“ zu sein oder zumindest bösartig, sie streiten und versöhnen sich, arbeiten und singen zusammen. Auf eine gewisse Art empfinden sie ihre Zusammenkunft als schicksalhaft und unausweichlich. An ihrer Selbstwahrnehmung ändert sich nicht besonders viel.

Von König zu Dung

Erst als versucht wird, sie einzeln mit verschiedensten (von Rokeach und dem Team erfundenen) äußeren Einflüssen zu konfrontieren, bewegt sich einiges in den Weltbildern.
Leon, der Jüngste der drei, entwickelt ein völlig neues, hochkomplexes Selbstbild; er sucht sich einen neuen Namen, die Erzählungen über seine Herkunft, seine Familie, seine leibliche Mutter (die „alte Hexe“) variieren nahezu stündlich. Er behauptet abwechselnd, ein Yeti zu sein, das Ergebnis der Zeugung einer Yeti-Frau (die später sowohl seine Mutter als auch seine Geliebte sein würde) oder das Objekt einer Selbst-Zeugung und -Geburt. Mehrmals wechselt er das Geschlecht; seine sexuellen Obsessionen, die er mit Hilfe von Gebet und Göttlichkeit unter Kontrolle hatte, werden mehr und mehr zum Mittelpunkt seines Selbstbildes. Nur selten spricht er noch von seiner Göttlichkeit - das „übersteigerte Objektselbst“, das ihn glauben ließ, er wäre der Schöpfer und Erlöser des Universums, überzeugt ihn schließlich davon, das allerletzte zu sein, „niedrigste Scheiße“, der Dung an seinen Stiefeln - weshalb er auch von nun an „Dung“ genannt werden wollte (er hatte sich schon zu Beginn des Experiments einen Spitznamen für sich erbeten: die anderen sollten ihn „Rex“ nennen).

2017 wurde die Geschichte mit Richard Gere und Peter Dinklage unter dem Titel „Three Christs“ verfilmt. Der Film erntete allerdings eher durchwachsene Kritiken.

Die Geschichte von Leon lässt unweigerlich an die vielen aktuellen zivilen Ausformungen seiner Krankheit denken. Sein teilweise brillanter, in sich stimmiger Größenwahn, seine von den manipulativen Aktionen der Ärzte induzierten wahnhaften Störungen, sein Narzissmus, der zwischen Erhöhung und Erniedrigung wechselt und die widerstandslose Umdeutung der Realität, damit sie in das eigene Bild passt – all das fügt sich sehr gut in die Zeit von QAnon, Donald Trump und Boris Johnson. Das fünfzig Jahre alte Buch dockt an eine postindustrielle, von Narzissmus und Paranoia durchzogene Realität präziser an, als der Leser*in lieb ist.

Keine Heilung durch Einsicht

Soviel darf verraten werden: An eine „Heilung durch Einsicht“, die sich der überzeugte Behavioralist Rokeach von der Behandlung versprochen hatte, war nicht zu denken. Einzig Clyde, der älteste, wird 1970 entlassen und zu seiner Familie nach Hause geschickt, die anderen beiden sollten für den Rest ihres Lebens im Ypsilanti State Hospital bleiben. Die Methoden, mit denen die Ärzteschaft und der Psychologe in das Leben und die filigranen Realitäten der Christi eingreifen, wären heute sicher weitgehend ethisch nicht mehr vertretbar. So erfinden sie für Leon Situationen, etwa den Besuch seiner (eingebildeten) Frau oder treiben ihn in die Verliebtheit zu einer Ärztin.

Dass all diese Manipulationen eher Traumata auslösen als auflösen, schien das Ärzteteam nicht weiter zu kümmern, einzig Milton Rokeach selbst bemerkt einen unerwarteten Therapieerfolg: „Während es mir nicht gelungen war, die drei Christi von ihren Wahnvorstellungen zu heilen, war es ihnen durchaus gelungen, mich von der meinen zu heilen – von meinem gottgleichen Wahn nämlich, dass ich sie verändern könne, indem ich allmächtig und allwissend ihr tägliches Leben im Rahmen der ‚Institution insgesamt‘ organisierte und umorganisierte.“

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