FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Feuerwerk an Silvester

CC0 Pixabay

Ein Buch fürs Loslassen und Neuanfänge: „Steine schmeißen“ von Wortlaut-Finalistin Sophia Fritz

Silvesternacht in Wien. Eine Gruppe junger Erwachsener will das alte Jahr verabschieden und gemeinsam in ein Neues starten. Es geht ums Loslassen und Festhalten, um Selbstreflexion und Rebellion.

Von Alica Ouschan

Buch mit Stein

FM4

Steine schmeißen von Sophia Fritz hat 231 Seiten und ist im Kanon Verlag erschienen.

Wir haben uns alle gewünscht, dass es 2021 anders laufen wird, vielleicht sogar, dass wir wieder richtig große Silvesterparties feiern können. Wie wir alle wissen, spielt sich das aber leider auch heuer nicht. Vielleicht können das ja manche als Chance sehen, Silvester etwas anders zu verbringen als sonst. Vielleicht alleine, mit einem guten Buch, einem Buch über die Silvesterparty, die wir gerade nicht feiern können und das die Frage nach Neujahrsvorsätzen und Loslassen erzählerisch aufarbeitet.

Denn wenn wir ehrlich mit uns selbst sind, stellen wir uns doch alle gegen Ende eines Jahres, wenn auch vielleicht nicht laut ausgesprochen, wieder dieselben Fragen: „Neujahrsvorsätze, ja oder nein? Was will ich im alten Jahr lassen? Womit will ich beginnen?“ - für diese Stimmung hat Sophia Fritz die perfekte Lektüre geliefert.

Ein Geheimnis kommt selten allein

Anna und ihre Freund:innen treffen sich am Abend des 31. Dezember, um gemeinsam das alte Jahr zu verabschieden. Was sie zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht wissen: Anna hat ein Geheimnis und sie ist nicht die einzige. Zwischen Anna und ihrer Jugendliebe Alex ist es nach sieben Jahren Beziehung und gemeinsamen Umzug nach Wien endgültig aus - gesagt hat Anna das aber noch keinem, nicht mal ihrem besten Freund, der für Silvester extra aus Frankfurt nach Wien gereist ist.

Auch Annas beste Freundinnen ahnen nichts, denn im späteren Verlauf der Geschichte erfahren wir, dass alle beteiligten viel zu beschäftigt mit sich selbst und ihren eigenen Geheimnissen sind, um zu merken, das etwas bei ihrem Gegenüber nicht stimmt. Ein zunächst harmlos erscheinendes Ritual, um das Warten bis Mitternacht zu überbrücken, bringt schließlich nach und nach die Geheimnisse ans Licht - Geheimnisse, die sobald sie rauskommen, die Beziehungen der Figuren zueinander für immer verändern könnten.

„Das war schon gut, sagt Lukas und legt die vollgeschriebenen Listen in einem Schuhkarton ab, aber gleich müsst ihr noch ehrlicher sein. Noch ehrlicher, frage ich und Jara lacht neben mir aufgekratzt. Wirklich, sagt Lukas. Es ist wichtig, sonst funktioniert das mit der Energie nicht, die muss in die Steine, die ihr beschriftet, und die werden wir nachher gemeinsam vor Mitternacht in die Donau schmeißen.“

Keine autobiografische Geschichte

Die Erzählungen in „Steine schmeißen“ sind keine Anekdoten und Erlebnisse aus dem Leben von Autorin Sophia Fritz. Sie hat jedoch mit dem Schreiben des Romans eine Phase ihres Lebens aufgearbeitet und reflektiert darin erzählerisch über den Wunsch, etwas loslassen und gleichzeitig daran festzuhalten zu wollen: „Die Frage ist, was loslassen überhaupt bedeutet“, sagt Sophia Fritz im FM4 Interview. „In meinem Roman ist das so angelegt, dass es bedeutet, wegzuschmeißen oder auch etwas wegzuschneiden, von einem selbst. Also die Geschichte aufzutrennen, zwischen sich und dem Erlebten. Es kann aber auch bedeuten, eine andere Perspektive auf das zu bekommen, was man erlebt hat. Beide Vorgänge werden im Buch thematisiert.“

Das Schreiben hat für Sophia Fritz etwas Therapeutisches. Die Protagonistin Anna versucht im Roman ihre eigene Vergangenheit zu rekonstruieren, konstruiert dabei aber auch immer wieder ihre Beziehungen zu den anderen Personen neu und ertappt sich selbst dabei, wie sie ihre eigenen Erinnerungen mal in die eine, mal in die andere Richtung beeinflusst.

Sophia Fritz

Marion Koell

Sophia Fritz ist 1997 in Tübingen geboren, hat in Wien gelebt und jetzt in München. 2019 stand sie auf der Shortlist beim FM4 Wortlaut Kurzgeschichten Wettbewerb. Sie macht aktuell eine Ausbildung zur Sexualtherapeutin.

Irgendwo zwischen Selbstgeißelung und Ausreden für das eigene Fehlverhalten finden, geht es darum, sich die Fehler einzugestehen, die man in der Vergangenheit gemacht hat - und einen Umgang damit im Hier und Jetzt zu finden: „Ich greife das auf, weil es für mich sehr schwierig ist, im Moment zu leben“, sagt Sophia Fritz. „Das liegt daran, dass wir so viele Möglichkeiten haben, nicht im Moment zu Leben, zum Beispiel weil wir die Sprachnachrichten von unserem Ex-Freund aus 2015 ständig mit uns in der Hosentasche herumtragen.“

Im Buch wird dies auch von den Protagonist:innen thematisiert, als sich eine Frau darüber beschwert, dass sie nie ganz im Moment lebt und das als Schwäche wahrnimmt. Eine Freundin erwidert daraufhin, dass die vorherigen Generationen keine Wahl gehabt hätten und immer im Moment leben mussten, um zu überleben.

Sophia Fritz zeichnet ein Bild von dieser ersten Generation, die nicht im Moment leben muss, welche neuen Problematiken aber auch Chancen sich dadurch ergeben: „Es geht darum, sich selbst den Druck zu nehmen, immer im Moment leben zu müssen. Die Protagonistin wünscht sich einen objektiven Erzähler, der analysiert, was sich woraus erbaut hat, wie man das wieder auseinander dividieren kann. Was bleibt dann übrig? Und was ist Objektivität? “

Aufkommende Wutgefühle und kleine Explosionen

Sophia Fritz hat in ihren Jugendjahren unter anderem bereits einen Kriminalroman und einen Kurzgeschichtenband veröffentlicht, später mehrere Literaturpreise erhalten und für DIE ZEIT geschrieben. „Steine schmeißen“ ist ihr Roman-Debüt und eine gelungene Mischung aus lebendiger Prosa und sanfter Anregung zur Selbstreflektion.

Sie hat ein Händchen dafür, vielschichtige, wenn auch teils klischeehafte, für die Millenial Generation typische Charaktere zu zeichnen, schafft aber gleichzeitig ein tiefes Verständnis für das Wesen dieser Figuren und eine Art Verbundenheit, ohne dabei detailliert auf deren Hintergrundgeschichte eingehen zu müssen oder plakative Beschreibungen zu verwenden.

„Heute ist die Nacht, sagt Marie und umarmt mich von hinten. Marie merkt sich nicht, ob man seinen Kaffee schwarz oder mit Milch trinkt oder mit wie vielen Männern man schon geschlafen hat oder nach was man in den letzten fünf Jahren bei YouPorn und bei Chefkoch gesucht hat. Marie ist alles ganz egal, ich glaube wir sind nur befreundet, weil sie mich nie gefragt hat, warum ich so bleich aussehe.“

Außerdem spannend: Sophia Fritz trifft die Entscheidung, im Buch keine Anführungszeichen zu verwenden, um Ausgesprochenes zu kennzeichnen, weder bei der Ich-Person, noch bei den anderen Figuren. Die Erzählung wirkt deshalb umso kraftvoller als Reflektion des introspektiven Erlebens und Wahrnehmens der Hauptfigur. Schlussendlich beschreibt der Titel „Steine schmeißen“ eine Art Wut, die sich nicht konkret gegen etwas bestimmtes richtet. Es geht vielmehr darum, sich den Weg in das Gefühl der Wut zu bahnen. Sophia Fritz findet diesen Weg, indem sie konstant Spannung aufbaut, die sich schließlich in mehreren kleinen Explosionen und einem großen Knall entlädt – eigentlich ganz genau so, wie ein Silvesterfeuerwerk.

mehr Buch:

Aktuell: