Mei liabster Geist
Von Rainer Sigl
Russland, Ende des 19. Jahrhunderts, irgendwo in der tiefsten Provinz. Zwischen finsteren Wäldern ducken sich armselige Dörfer, in den Kirchen aus Holz predigen orthodoxe Priester und Mönche, doch bei den Bauern ist der alte Aberglaube genauso stark wie die Angst vor Gott. Im Videospiel „Black Book“ ist die Welt voll mit kleinen und großen Hausgeistern, bösen Wasserhexen, finsteren Dämonen und mächtigen Hexenmeistern.
In der Rolle der jungen Hexe Vasilisa versuche ich, meinen verstorbenen Ehemann von den Toten zurückzuholen; als Selbstmörder ist seine Seele direkt zur Hölle gefahren. Der alte Egor, der mich aufgezogen hat, ist ein „Koldun“, eine Mischung aus Medizinmann und Zauberer; mit der Hilfe seines magischen Buches habe ich vielleicht die Chance, den Teufel selbst zu überlisten. Zuvor muss ich aber sieben Siegel des teuflischen Schwarzen Zauberbuches brechen und zur mächtigen Magierin und Herrin über allerlei Dämonen werden.
Der Witcher auf dem Dorfe
Richtig: Das klingt ein wenig nach dem Stoff, der auch der weltberühmten polnischen „Witcher“-Reihe zugrundeliegt. Doch in „Black Book“ bin ich kein stereotyper Fantasy-Held, sondern bleibe zugleich Teil einer sehr bäuerlichen Gesellschaft. Wer immer im Dorf oder den Nachbarnestern ein Problem hat, klopft an meine Tür und bittet Opa Egor und mich um magische Hilfe. Meist geht es dabei um Alltägliches. So soll ich einen Spuk im Badehaus vertreiben, bei einer Hochzeit darauf achten, dass keine Flüche das Brautpaar treffen oder teuflische Wechselbälger entlarven. Stück für Stück komme ich dabei meinem Ziel näher, alle Geheimnisse des Schwarzen Buches zu lüften und meinen Mann aus der Hölle zu befreien.
Tag für Tag höre ich mir die Bitten der Bauern an und mache mich auf der Übersichtskarte auf den Weg durch Wälder, Wiesen und Dörfer. Wenn ich auf das Böse treffe, wird magisch gekämpft, und zwar mit einem taktischen Kartenspiel, für das ich nach und nach immer stärkere Karten und Kombinationen freischalten kann. Abgesehen davon führe ich viele Dialoge und muss hin und wieder folgenschwere Entscheidungen treffen.

Morteshka
Ein Universum voller Geister und Mythen
„Black Book“ ist ein Spiel, dem man die Vertrautheit und Liebe zu seiner Welt der russisch-slawischen Folklore anmerkt. Die tausend kleinen Sagen und Geschichten, die hier erzählt und erlebt werden, verbinden sich zu einem erstaunlich lebendigen Bild einer Volkskultur, deren düstere Mythen sich auf erfrischende Art und Weise vom altbekannten Fantasy-Einheitsbrei und der üblichen Gothic/Lovecraft-Horrorschiene unterscheiden. Dass die Monster, Zauber und Gebräuche nicht frei erfunden, sondern Teil einer realen Volkskultur sind, macht das Eintauchen in diese Welt ziemlich einzigartig; dank der Unterstützung eines Ethnologen bleibt „Black Book“ sehr nah an seinem Originalstoff.
„Black Book“, entwickelt von Morteshka, vertrieben von Hypetrain, ist schon im Sommer 2021 für Windows, Mac sowie alle aktuellen Konsolen erschienen.
Das Setting und seine hintergründige Folklore lassen dann auch manche Schwächen verzeihen. Grafisch schwankt das Spiel zwischen zwei Extrempolen: Immer wieder ist man beeindruckt von stylischem Low-Poly-Minimalismus, nur um sich dann etwa beim Anblick der Gesichter und Animationen knapp am Rand der absoluten Peinlichkeit einzufinden. Neben der Story entschädigt dafür aber unter anderem auch die gelungene Sprachausgabe und vor allem die stimmige Musik. Am Schluss stehen mehrere mögliche Enden - je nachdem, wie viele Sünden ich als letzten Endes eher zwiespältige okkulte Heldin dabei auf mich geladen habe.
Das taktische Deckbuilding-Kartenspiel überfordert auch Einsteiger*innen ins Genre nicht, bleibt aber dank spezieller Bosskämpfe interessant. Die Hauptrolle spielt aber die reiche und beeindruckend detaillierte russisch-slawische Mythenwelt, mit der ich hier stolze 30 Stunden verbringe. Die macht „Black Book“ zu einem wirklich frischen, großartigen und ganz besonderen Rollenspielabenteuer.
Publiziert am 05.01.2022