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"The Many Saints Of Newark" "The Sopranos"

Warner Bros.HBO Max

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Die Vorgeschichte von „The Sopranos“: „The Many Saints Of Newark“

Für 120 Minuten ist die US-Mafia zurück. Sopranos-Erfinder David Chase erzählt in dem Film „The Many Saints Of Newark“ die Vorgeschichte zu der für viele Fans und Kritiker*innen besten TV-Serie aller Zeiten.

Von Christian Lehner

Ein persönlicher Vorspann

Der Tipp kam von einem Freund. „Sie ist schnell, zuverlässig und verlangt nicht viel für ihren Job.“ Ich nahm also den G- und den R-Train nach Bay Ridge in eine mehrheitlich von Italo-Amerikaner*innen bewohnte Neighborhood in Brooklyn. Vor ihrem Haus parkte ein alter, hellgelber Cadillac mit einem Ronald Reagan-Bumper Sticker auf der Stoßstange. „Wohl keine Stimme für Obama“, dachte ich damals kurz nach den Präsidentschaftswahlen 2008, als ich zum zweiten Mal für einige Jahre nach New York gekommen war. Ihr Mann empfing mich in Hausschlapfen. Ich musste auch ein Paar überstreifen. An den Wänden hingen Bilder von Dean Martin, Frank Sinatra und der Verwandtschaft dies- und jenseits des großen Wassers. Wir tranken Kaffee aus Häferln, auf denen eine amerikanische Flagge eine italienische kreuzte.

Tony Sirico

Greg2600 / Wikimedia Commons / CC BY-SA 2.0

Tony Sirico, CC BY-SA 2.0

Meine neue Steuerberaterin war sehr freundlich und wirkte kompetent. Die Unterlagen waren schnell durchgeblättert, die Details rasch besprochen. Und so plauderten wir noch ein wenig. Wir kamen auf die italo-amerikanische Community in Brooklyn zu sprechen. Als Sopranos-Ultra, der auch schon mal nach New Jersey zum Gebäude des Serien-Strip-Clubs und Mobster-Treffpunktes Bada Bing! an die Route 17 pilgerte, wurden meine Ohren immer länger, als sie mir erzählte, dass sie die Cousine von Tony Sirico sei.

Sirico spielte in „The Sopranos“ den cholerischen Peter Paul „Paulie Walnuts“ Gualtieri – zunächst Soldier und später Caporegime in der DiMeo-Familie, ein bis zum Schluss loyaler Gefolgsmann von Tony Soprano. Von Sirico weiß man, dass er sich für die Rolle nicht besonders verbiegen musste. Er war einer der wenigen vom Cast, die tatsächlich einen Mobster-Hintergrund hatten - ein Umstand, den seine Cousine bestätigte. „Er und sein Paps waren schon üble Burschen, die schwarzen Schafe der Familie. Ihre Masche war, alte alleinstehende Damen um ihr Vermögen zu bringen.“ Mit gesiebter Luft kannte sich Sirico auch gut aus. Laut Wikipedia-Eintrag wurde er wegen diverser Verbrechen 28 Mal verhaftet, bevor er als Schauspieler durchstartete. Trotzdem ist er ein Mann der „Ehre“. Seine Bedingung für die Teilnahme an „The Sporanos“ war, dass er keine „rat“, also keinen Polizeispitzel, spielen musste.

Ihr könnt Euch sicher gut vorstellen, dass ich das Honorar der Steuerberaterin stets pünktlich bezahlte und mich nicht näher nach ihrer Stellung innerhalb der Familie erkundigte.

„The Sopranos“

Sie gilt vielen Kritiker*innen und Fans als die Mutter aller modernen Serien. „The Sopranos“ lief von 1999 bis 2007 im US-amerikanischen Fernsehnetzwerk HBO. Die vielfach ausgezeichnete Geschichte rund um den manischen Mafia-Boss Tony Soprano hat in Sachen Storytelling und Figurenentwicklung neue Standards gesetzt. Das völlig unerwartete Ausscheiden von bestens eingeführten Charakteren gehörte da ebenso dazu, wie die aufwendige, ans Kinoformat angelehnte Inszenierung der einzelnen Episoden. Mit dem Tod des Hauptdarstellers James Gandolfini 2013 zerschlugen sich die Hoffnungen auf eine Fortsetzung von „The Sopranos“. Doch nun gibt es zumindest ein kleines Trostpflaster. Vor einigen Wochen ist der Film „The Many Saints Of Newark“ in die Kinos gekommen. Der Streifen erzählt die Vorgeschichte zu „The Sopranos“. Jetzt ist der Film via Amazon als Stream verfügbar.

The Many Saints Of Newark – Der Film

“The Many Saints Of Newark” beginnt mit einer Geisterstimme. Während die Kamera über einen Friedhof fährt, erzählt uns der dort begrabene Christopher Moltisanti von seinem Tod. Sein früherer Mentor, der Mafia-Boss Tony Soprano, hatte ihn erwürgt. Es war einer dieser „Wow“-Momente, für die „The Sopranos“ berüchtigt war. Nun erfahren die Zuseher*innen, wie alles begann. In der nächsten Einstellung landen wir im New Jersey der Sechzigerjahre. Christophers Stimme macht sich lustig über seinen späteren Mörder. Tony Soprano ist ein dicklicher Junge, der seinen Onkel Dickie Moltisanti (Alessandro Nivola), Christophers Vater, anhimmelt.

"The Many Saints Of Newark" "The Sopranos"

Warner Bros.HBO Max

Michael Gandolfini als junger Tony Soprano

Dickie ist die Hauptfigur von „The Many Saints Of Newark“ – ein aufstrebender, gut aussehender Mobster, der zwischen Skrupellosigkeit und Verantwortungsgefühl hin und hergerissen ist. Tonys Vater sitzt im Knast. Dickie soll dem verhaltensauffälligen Teenager Manieren beibringen. Das geht natürlich schief. Nach und nach erfährt Tony von den kriminellen Machenschaften seiner Familie und gerät in ihren Sog.

In den 120 Minuten von „The Many Saints Of Newark” begegnen uns viele bekannte Gesichter aus „The Sopranos“. Es sind die jüngeren und durchwegs gut gespielten Versionen etwa von Livia (toll: Vera Farmiga), der kühlen Mutter von Tony. Der verschlagene Onkel „Junior“ ist ebenso mit dabei wie die nicht gerade zimperlichen Mafiosi Paulie Walnuts und Silvio Dante. Neu ist der vor allem aus „Goodfellas“ bekannte Ray Liotta in einer kongenialen Doppelrolle als Dickies Vater und Onkel zu sehen.

"The Many Saints Of Newark" "The Sopranos"

Warner Bros.HBO Max

Mit „The Many Saints Of Newark” ist Sopranos-Erfinder David Chase der Spagat gelungen, einerseits die lechzende Fangemeinde der legendären Gangster-Serie mit diversen Anspielungen und Auflösungen zufrieden zu stellen. Andererseits entwirft der Sopranos-Showrunner ein neues Szenario. Im Mittelpunkt steht weniger das Psychogramm der handelnden Figuren, sondern ein Portrait der gesellschaftlichen Konflikte der späten Sechzigerjahre, die bis heute nachwirken und die Charaktere prägen.

Die Geschichte entfaltet sich vor dem Hintergrund von Protesten und Ausschreitungen in Newark, der größten Stadt von New Jersey. 1967 entlädt sich nach einem Polizeiübergriff auf einen schwarzen Taxifahrer der schwelende Konflikt zwischen Cops, Italo-Amerikanern und den irisch stämmigen Einwohner*innen auf der einen und der schwarzen Bevölkerung auf der anderen Seite in tagelangen Straßenschlachten und Plünderungen. Die Bilanz: 26 Tote, 700 Verletzte und über 1.000 Verhaftungen.

David Chase und Regisseur Alan Taylor widmen dem Erwachen des schwarzen Selbstbewusstseins sehr viel Zeit. Wir nehmen an Lesungen der afrozentristischen Gruppe The Last Poets teil und hören Songausschnitte des Spoken-Word-Pioniers Gil Scott Heron. Mit der Figur des Harold MacBrayer (Leslie Odom Jr.) steigt ein schwarzer Gangster vom Mafia-Handlanger zum ernsthaften Konkurrenten von Dickie Moltisanti und der DiMeo-Familie auf. Auch die junge italienische Freundin des Mobster Bosses will sich mit einem Beauty-Salon selbständig machen. Ein Hauch von Emanzipation liegt in der bleihaltigen Luft. Doch manche dieser Träume enden in feuchten Gräbern.

"The Many Saints Of Newark" "The Sopranos"

Warner Bros.HBO Max

Leslie Odom Jr. (l) als Harold MacBrayer

David Chase zollt dem Zeitgeist Tribut. Rassismus, toxische Männlichkeit und Femizid werden schonungslos in Szene gesetzt. Die romantisierte Welt der Mobster-Kultur, wie sie noch im Frühwerk von Francis Ford Coppola oder Martin Scorsese aufblitzte, weicht einer Korrektur. „Die gute alte Zeit“, von der Tony Soprano in beinahe jeder Folge der Serie schwärmte und damit die Ära seines Onkels Dickie Moltisanti heraufbeschwört hatte, wird als Fantasiegebilde enttarnt.

Es ist ein verklärend nostalgischer Blick auf eine brutalisierte Kindheit und eine lieblose Familie, die den Charakter unseres Titelhelden nachhaltig verderben sollten. Die Lüge über die Vergangenheit wird zum Selbstbetrug in der Gegenwart. Diese Lüge lässt Tony in der ersten Folge von „The Sopranos“ - von Panikattacken getrieben - die Praxis der Psychiaterin Dr. Jennifer Melfi aufsuchen. So schließt sich der Kreis.

Natürlich endet auch „The Many Saints Of Newark“ mit einem Knalleffekt. Man kann David Chase vorwerfen, dass er sich nicht wirklich entscheiden konnte, ob er nun ein abendfüllendes Gangster-Epos in Szene setzen wollte oder doch eher eine Serie. Aber dieser Einwand ist vernachlässigbar, wenn man bedenkt, was hier alles schief laufen hätte können. Als Sopranos-Kenner*in wird man in neue Familiengeheimnisse eingeweiht, der Film funktioniert aber auch als Stand-Alone für Novizen. Die neu eingeführten Figuren könnten ruhig noch einige Schattierungen vertragen, schon wird über eine Serie zum gelungenen Prequel spekuliert.

Erwähnenswert ist noch die Darstellung des jungen Tony Soprano. Tony wird von Michael Gandolfini, dem Sohn des verstorbenen Serien-Hauptdarstellers James Gandolfini gespielt. Und da ist es dann auch wieder – und das sehr authentisch - das gefährlich verschmitzte Lächeln des Tony Soprano.

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