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Irrgarten aus Hecken

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Lost

Todor Ovtcharov erzählt in seiner heutigen Kolumne vom sich Verirren und Verlorengehen.

Eine Kolumne von Todor Ovtcharov

Jede/er war schon mal verloren. Für einige ist das ein Abenteuer, für andere ein Albtraum. Ein Bekannter von mir verirrte sich einmal in Istanbul und fühlte sich wie Magellan, der die Gewürzinseln sucht. Jedes mal, wenn er Essen riecht, erzählt er die Geschichte, wie er in Istanbul Schafseintopf gegessen hat. Vorher habe er nie Schaffleisch gegessen, und jetzt preist er dieses Fleisch als das gesündeste und schmackhafteste der Welt.

Er war am Ende seiner Kräfte, im Labyrinth von Istanbul, als er eine Tür sah, die ihn in einen Keller führte. Dort saßen in einem halbdunklen Raum vier Bauarbeiter, die diesen Eintopf aßen. Er sah anscheinend so elend und hungrig aus, dass sie ihn einluden und ihm einen Teller reichten. Nachdem er gegessen hatte, brachte ihn einer der Bauarbeiter hinaus und zeigte ihm sein Hotel, das nur hundert Meter entfernt war. Denn er hatte sich sich die ganze Zeit hinter dem Hotel befunden, von dem er nur die Vorderseite kannte.

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Diese Geschichte passierte in der alten Zeit, noch vor den Naviprogrammen in unseren Handys. Aber auch GPS Systeme können fehlerhaft sein. Eine andere Bekannte war einmal in Südkorea, und ihr Navi zeigte die ganze Zeit, dass sie im Meer sei. Und sie spazierte in einem Hafenviertel, es wurde immer dunkler, und dunkle Gestalten brieten etwas nicht Identifizierbares in Blechfässern. Sie versuchte, sie auf Deutsch, Französisch oder Englisch anzusprechen. Alle antworteten auf Koreanisch und betrachteten sie hochmütig.

Sie geriet in Panik und fing an, einfach in eine Richtung zu rennen. Sie rannte und rannte, bis sie von irgendwo Musik hörte, die ihr bekannt vorkam. Sie erreichte ein offenes Fenster. Im Zimmer schaute eine Familie ein Fußballspiel, die bekannte Musik war die französische Natonalhymne. Sie schaute rein uns sang mit voller Stimme „Allons enfants de la Patrie!“. Die überraschte Familie sah ihr singendes, erschrockenes Gesicht und rief ihr ein Taxi. Seitdem ist sie - ohne Französin zu sein - der größte Fan der französischen Fußballnationalmannschaft und verpasst kein einziges Spiel.

Am besten hat es meine Freundin J. Sie ist eine dieser Menschen, die in ihrem eigenen Badezimmer verloren gehen können. Sie wohnt schon lange in Wien, aber jedes Mal, wenn sie rausgeht, fühlt sie sich, als sei sie das erste Mal da. Wie ein kleines Kind hat J jeden Tag hunderte von Fragen, sie sieht die Stadt mit neuen Augen und freut sich darauf. Ich habe nie einen anderen Menschen gesehen, der sich so auf seine Entdeckungen freut. Kleine Details werden wichtig und Selbstverständlichkeiten zu einem Ereignis. Die äußere Welt vermischt sich mit ihrer inneren Welt. In der Pandemie sind wir gezwungen, in uns hinein zu schauen. Hoffentlich verlieren wir uns nicht darin.

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