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Matthes & Seitz

Buch

Der Mensch und die Natur, eine Beziehung am Abgrund

Nachdem ein Bär sie angegriffen hat, ist für die junge französische Wissenschafterin Nastassja Martin nichts mehr, wie es gewesen ist. Dennoch kehrt sie wieder an den Ort des Geschehens zurück, auf die russische Halbinsel Kamtschatka. „An das Wilde glauben“ ist ein packendes autobiografisches Buch über den Menschen und die Natur und was ersterer in der Beziehung mit zweiterer überdenken sollte.

Von Eva Umbauer

„Ich laufe durch die Straßen des 18. Arondissements, ein großes Tuch um Hals und Gesicht gewickelt, um meine Narben zu schützen. Es nieselt und windet, es herrscht diese feuchte, eisige Pariser Kälte, die unter die Haut kriecht...“

Nastassja Martin hatte eine ihr Leben verändernde Begegnung auf der Halbinsel Kamtschatka ganz im Osten Russlands. Die studierte Anthropologin wurde von einem Bären attackiert. Sie überlebte den Angriff, indem sie sich mit einem Eispickel wehrte, den sie dabeihatte. Ihr autofiktionales Buch „An das Wilde glauben“ ist aber kein Sensationsbericht einer Bärenattacke, sondern die Autorin fragt sich vielmehr, was diese extreme Begegnung zu bedeuten hat. Als eine Art Sensation wird sie im Krankenhaus in Paris dennoch betrachtet.

„Ich bin Wissenschaftlerin, ich verstehe schon. Die Notwendigkeit, seine Arbeit mit den Studierenden zu teilen, sie daran teilhaben zu lassen, jede Gelegenheit zu nutzen, um ihre Kenntnisse zu mehren, über die Fragen zu debattieren, die einen in Bezug auf einen bestimmten Gegenstand beschäftigen. Nur bin ich heute dieser Gegenstand. Ein Schwarm von Medizinstudierenden, die ihrem Professor folgen wie Bienen ihrer Königin, kommt in mein Zimmer, sie sind so alt wie ich oder kaum jünger. (…) Sie beobachten und lauschen dem Professor, der meinen Fall vorstellt: Bärenbiss in Gesicht und Schädel.“

Nastassja Martin

Philippe Bretelle und Gallimard

Nastassja Martin hat noch mehr abbekommen als „nur“ Verletzungen im Gesicht, auch ein Bein ist lädiert. Der Kiefer aber ist wohl das Schlimmste. Noch in Russland hat sie chirurgisch eine Metallplatte eingesetzt bekommen, diese wird in einem Spital in Paris ersetzt, denn sie ist anscheinend minderwertig. Eine Art Kalter Krieg zwischen Frankreich und Russland. Ein Krankenhauskeim nistet sich schließlich auf der französischen Platte ein. Vielleicht wäre die russische besser gewesen.

Die Genesung von Nastassja Martin liest sich so brutal, wie sie gewesen sein muss. Die Freund*innen der jungen Frau auf Kamtschatka wollen, dass sie wieder zurückkommt. Nastassja hatte dort vor allem viel Zeit bei der indigenen Gemeinschaft der Ewenen verbracht, um mehr über die Bedeutung des Traums in dieser Volksgruppe zu erfahren. Die Freund*innen ihrer Mutter in Frankreich meinen, sie solle doch endlich anfangen, der Tochter, die es nicht so recht mit Konventionen hat, Dinge schlicht und einfach zu verbieten.

„Durchs Fenster sieht man den Militärhafen mit den U-Booten, die dort instand gesetzt werden. (...) Die Luft ist eisig, Reifkristalle glitzern im Winterlicht, rosa über dem Meer, lila über dem gegenüberliegenden Vulkan. (…) Die winzige Küche bildet den Mittelpunkt. Darin ein kleiner Tisch mit einer beigen Plastikdecke, ebenfalls geblümt, vier Hocker, ein Gasherd, eine Spüle und ein kleines Fenster, das auf die Rückseite des Wohnblocks hinausgeht, wo meterhohe Schneehaufen liegen. Hier sitzen Julija und ich einen guten Teil der Nacht, erzählen uns Frauengeschichten und reden über Politik.“

Nastassja Martin ist 29 Jahre alt, als sie dieses verhängnisvolle Zusammentreffen mit dem Bären auf Kamtschatka hat. Sie erzählt immer wieder in Flashbacks davon, basierend auf tagebuchartigen Einträgen. Es war im August 2015. Nun ist sie eine miedeka, eine ewenische Bezeichnung, die bedeutet, dass sie kein „normaler“ Mensch mehr ist, sondern eine Frau, die halb Mensch, halb Bär ist, weil sie nach dem Angriff durch das Tier für immer gezeichnet bleibt. Das Tier soll nun auf eine Weise in ihr sein und für immer bleiben, jedenfalls nach dem animistischen Glauben an die Allbeseeltheit der Natur.

„Wir müssen der Entfremdung entkommen, die unsere Zivilisation erzeugt. Aber Drogen, Alkohol, Melancholie und/oder Tod sind keine Lösung, man muss etwas anderes finden. Das ist es, was ich in den Wäldern des Nordens gesucht, was ich nur teilweise gefunden habe, was ich weiter verfolge.“

„An das Wilde glauben“ von Nastassja Martin ist das faszinierende Buch einer jungen Frau, die eine gewisse innere Melancholie über den Zustand der Welt verspürt. Mit seinen nicht einmal 150 Seiten ist es eine Art Essay, eine autobiografische, ins Autofiktionale hineingehende Erzählung, die sich oft nüchtern liest, aber dann auch wieder sehr poetisch. Es handelt sich weder um einen reißerischen Erlebnisbericht noch um eine Horror- oder Fantasy-Story, sondern um eine emotionale genauso wie rationale Erzählung. Eine philosophische Erzählung, die anregt, das Verhältnis von Mensch und Natur zu überdenken.

Man stolpert, sinkt ein, humpelt voran, fällt hin, steht wieder auf. Iwan sagt, nur die Menschen glauben, dass sie alles richtig machen. Nur die Menschen messen dem Bild, das die anderen von ihnen haben, so viel Bedeutung bei. Im Wald leben heißt aber auch: ein Lebewesen unter so vielen anderen sein, mit ihnen schwanken.

„An das Wilde glauben“ hat ein radikales Wissenschaftsverständnis, stellt die Konventionen der Anthropologie in Frage oder fordert globale Transformationsprozesse, die es so dringend braucht. Es ist ein wundervolles Buch, emotional berührend und intellektuell bereichernd.

Noch eine Buchempfehlung zu Kamtschatka: „Das Verschwinden der Erde“, ebenfalls letztes Jahr erschienen.

„An das Wilde glauben“ von Nastassja Martin wurde von der französischsprachigen Originalausgabe, dem letztes Jahr erschienenen „Croire aux fauves“, von Claudia Kalscheuer für den Matthes & Seitz Verlag in Berlin ins Deutsche übersetzt. Eben ist auch eine französischsprachige Taschenbuchausgabe erschienen. Außerdem gibt es „An das Wilde glauben“ auch auf Englisch, „In the Eye of the Wild“.

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