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The Choe Show

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Warum sind nicht alle Shows wie die „Choe Show“?

90er-Jahre-Public-Access-TV-Ästhetik trifft auf Gruppentherapie: David Choes „Choe Show“ ist ein wunderbar kontemporäres Stück Fernsehen, das die Welt ein bisschen besser machen könnte.

Von Christoph Sepin

Wie oft habt ihr euch schon gedacht: Das ist doch alles irgendwie immer das Gleiche, was ich mir da auf meinem TV-Bildschirm anschaue? Ah ja, da ist wieder die Origin-Story der nächsten Superheld*in. Und da, was für ein tolles Wikingerdrama. Und hier, die Late-Night-Talk-Show vor dem Backdrop einer Großstadt, in der ein älterer, grauer Herr junge coole Schauspieler*innen einlädt, um ein bisschen die Werbetrommel für den nächsten Film mit Superheroes und Drachen drin zu rühren.

Keine Sorge, für zumindest ein paar Stunden könnt ihr jetzt aus dem Loop aussteigen: „The Choe Show“ heißt die quasi Celebrity-Talk-Show des Künstlers David Choe, die mehr bietet als oberflächliche Marketinggespräche zwischen Entertainmentindustriedarsteller*innen. „The Choe Show“ ist Low-Brow, aber trotzdem in die Tiefe gehend, Experiment, Anti-Haltung, ohne einfach nur dagegen zu sein und vor allem Selbstentdeckung und Therapie - nicht nur für die anwesenden Gäste, sondern auch für die Leute, die zuschauen.

Wer ist David Choe?

David Choe ist im weitesten Sinne das, was man früher gerne mal als „Street Artist“ bezeichnet hat. Seine Bilder (und Wände) sind bunte, zuckersüß-übersättigte Arbeiten, in denen präzise Striche auf verschmierte Farben treffen. Ein Künstler, der versucht, mit seinen Malereien das darzustellen, was tief im Innersten liegt: die Persönlichkeit, die Gefühle, vielleicht sogar die Essenz einer Person - soviel lässt er vermuten.

Mitte der 70er in Los Angeles geboren, hat Choe bis heute Albumcover für Jay-Z & Linkin Park gemacht, stellt in Museen aus, bastelt Grafiken, Animationen und Musikvideos, in Tokio wurde er angeblich einmal bei einer Ausstellung verhaftet und musste ein paar Monate im Gefängnis verbringen. Und dann, Mitte der 2000er, kam der große Mainstreammoment: Als Auftragsarbeit malte Choe das Büro von Facebook aus und nahm dafür statt Geld Unternehmensaktien entgegen - zumindest vor zehn Jahren hatten die noch einen geschätzten Wert von ca. 200 Millionen Dollar, jetzt höchstwahrscheinlich noch viel mehr.

Und was ist „The Choe Show“?

In seiner vierteiligen Serie, der „Choe Show“, geht es nur am Rande um Choes ereignisreiche Biografie. Viele Erlebnisse und Momente, die er mit seinen Gästen teilt, werden nur vage erwähnt, als ob man hier Freund*innen beim Abhängen zusieht, die sich schon ewig kennen und die gar nicht so ein großes Interesse daran haben, uns, den Zuschauer*innen, zu erklären, was die alles gemeinsam erlebt haben. Aber darum geht’s auch gar nicht, sondern um viel größere Themen.

Schon in der ersten Folge präsentiert sich ein Traumcast für Fans der kalifornischen Subkultur: Zu Gast sind Musiker und Mitglied der Cholo-Goth-Gruppe Prayers Rafael Reyes, Celebrity-Tätowiererin Kat von D und Pornodarstellerin Asa Akira. Das Konzept ist simpel: Choe malt ein Portrait seiner Gäste und plaudert daneben mit ihnen offen über alles Mögliche.

Was zuerst wie subversive Improvisation wirkt, entpuppt sich bald als durchgeplante Konzeptarbeit: Denn jede Folge der „Choe Show“ hat ein großes Überthema, das sich nur langsam rauskristalliert. In der ersten Folge ist das die Beziehung zwischen Kindern und Eltern, wie man zu den eigenen Erziehungsberechtigten gestanden ist und wie man selbst als Vater bzw. Mutter sein will. Am Ende der Folge erzählt Choe dann, wie nebenbei und zur Überraschung seiner Gäste, dass er selbst zum Vater wird.

Über vier Folgen trifft sich Choe dann mit Leuten, wie dem Musiker Denzel Curry, Will Arnett („Arrested Development“), Rainn Wilson („The Office“), der Autorin Erica Garza oder dem durch „Jackass“ berühmt gewordenen Steve-O. Ab und zu taucht Val Kilmer für ein paar Szenen auf. Und dann entstehen über jeweils knapp 30 Minuten ganz fantastische Momente: Choe und Denzel Curry, wie sie vor einer Leinwand stehen und wild mit ihren Händen darauf herummalen, Choe und Rainn Wilson, wie sie in bunten Verkleidungen im Dialog als andere Personen rollenspielen, Choe und Steve-O, wie sie darüber reden, wo sich im Körper der psychische Schmerz befindet.

Für Menschen, die regelmäßig in Therapie gehen, ist das nichts Unbekanntes: Die „Choe Show“ bedient sich klassischer Übungen zur Selbsterkenntnis, zur Traumabewältigung und Vergangenheitsaufarbeitung. Eine Sendung also, in der Menschen weit weg von traditionellen TV-Mustern, ungefiltert und ohne PR-Abteilung im Hintergrund, miteinander reden. Ja, die „Choe Show“ ist therapeutisch und erlaubt es den Zuseher*innen, gemeinsam mit den Protagonist*innen der Sendung, auf Selbsterkenntnis zu gehen und wirft eine große Frage über das Fernsehen im 21. Jahrhundert auf.

David Choe

The Choe Show

Warum sind nicht mehr Shows wie die „Choe Show“?

Über Sinn und Unsinn traditioneller Fernsehformate im Jahr 2022 kann viel nachgedacht und diskutiert werden. Was ist die Aufgabe einer Show, in einer Zeit, in der teils um einen Bruchteil des Budgets online über alle möglichen Kanäle eine Vielzahl mehr Zusehende erreicht werden - bzw. auch interessanteres, zeitgemäßeres Programm gestaltet wird? In einer Zeit, in der dank Internet das popkulturelle Wissen der Menschen so groß ist, dass jede Szene im nächsten Marvel-Film quasi vorhergesagt werden kann. Hat man ja schließlich alles schon mal gesehen.

„The Choe Show“ wird in den USA auf FX ausgestrahlt, im deutschsprachigen Gebiet gibt es die Sendung auf Disney+ zu sehen.

Für was steht also die Talkshow in dieser Zeit? Für Entertainment, für Ablenkung, vielleicht sogar für Eskapismus, wenn man es gerade mal braucht? Oder soll man doch vielleicht sogar etwas lernen? Über die Welt und über sich selbst? Neue Zugänge erlauben, vielleicht sich sogar mit ganz anderen Meinungen konfrontieren?

Why not both! „The Choe Show“ trägt den Mantel der bunt-bemalten Ästhethik, die an die Hochzeit des Public-Access-TVs erinnert, als Menschen wie Tom Green Anarchismus und Provokation vor Livepublikum zelebrierten oder Comedian Chris Gethard am Telefon mit Gästen diskutierte.

Dahinter ist ein echter Diamant zu finden: Menschen, die darüber sprechen, was ihnen am Herzen liegt. Die ignorieren, wie stark oder schwach sie denn aufgrund ihrer Sozialisierung jetzt sein sollten. Offene Diskussionen, offene Auseinandersetzung mit den eigenen Problemen und Schwierigkeiten - und dann vor allem gegenseitiger Support. Mental Health ist eines der wichtigsten gesellschaftlichen Themen, David Choe schafft es, die Wichtigkeit davon in 30 Minuten Entertainment zu verpacken. Wie seine Bilder eben: Bunte, grobe Farben auf der Oberfläche und darunter detaillierte, fein gezeichnete Betrachtungen. Hier der Wunsch nach mehr solchen Sendungen, die es schaffen, zeitgemäßes, hilfreiches und sinnvolles Entertainment aus den Stärken der klassischen TV-Unterhaltung zu erschaffen.

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