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Earl Sweatshirt

Earl Sweatshirt

„Sick!“ Die Rückkehr des sich sabotierenden Genies

Earl Sweatshirt wurde gefeiert als lyrisches Wunderkind des Rap. Anstatt sich von Erwartungshaltungen an sein Werk unter Druck setzen zu lassen, hat er Tonträger veröffentlicht, die die Vorstellungen, die das Publikum von Sweatshirt und seinem Oeuvre hat, zerbröselt haben wie mit Wachs gestrecktes Dope. So überrascht und euphorisiert er die Welt mit seinem gerade erschienen Album „Sick!“ aufs Neue.

Von Natalie Brunner

Der kalifornische Rapper und Producer weiß, wie man sich Machtstrukturen und einfach allem entzieht. Als Jugendlicher war er zentraler Teil von Tylers Odd Future, bis Earl Sweatshirts Mama, Cheryl I. Harris, Professorin für Critical race theory, ihn ins nicht ganz freiwillige Exil geschickt hat. Die negativen Auswirkungen von übermäßigem Weed-Konsum werden als Grund genannt. Als Ort des Exils wurde ein boot camp auf Samoa kolportiert.

Wie der Begriff boot camp zu interpretieren ist, sei dahingestellt, genauso, ob die auf das Verschwinden von Earl hin gestartete Free-Earl-Kampagne zu seinem psychischen Wohlbefinden beigetragen hat.

Inzwischen ist der 1994 geborene Thebe Kgositsile ein erwachsener Mann und hat seine Rap-Karriere damit verbracht, der Vergötterung, die ihm erwiesen wird (Bin es nur ich? Nein, ich glaube, es gibt mehr von uns) Haken zu schlagen und die Denkmäler, die man ihn bauen könnte, präventiv zu zertrümmern.

Auf seinem Mixtape Earl aus dem Jahr 2010 präsentierte er sich der Welt als lyrisches und zynisches Genie, das in den dunkelsten Ecken des menschlichen Gebarens herumstocherte.

Earl Sweatshirt

Ryosuke Tanzawa

Sein erstes Album „Doris“ kam 2013 heraus, mit Gastauftritten von Tyler und der Odd Future Fam, aber auch RZA, Frank Ocean, Mac Miller griffen für Earl zum Mikrophon. Earl Sweatshirt hat selbst unter dem Alias randomblackdude produziert und wurde von Magazinen in die Liste der zehn besten Hip Hop Producer aufgenommen.

Auf dem folgenden Album drehte sich Sweatshirt nach innen. Die Dunkelheit auf „I Don’t Like Shit, I Don’t Go Outside“ ist nicht zu überhören. Die Auseinandersetzung mit seinem Innenleben spiegelt sich auf diesem Album nicht in direkten Lyrics, sondern in sprachlicher Abstraktion und der Soundwelt wider. Auf Tour hatte Earl Kontakt mit Probleme schaffenden Substanzen und fing sich eine schwere Lungenentzündung ein.

Auf den Alben „Some Rap Songs“ von 2018 und „Feet of Clay“ von 2019 arbeitet er sich an der Idee ab, dass Rap mehr ist als die Summe von Worten. Er zerhackt Rhythmen, folgt einer nichtlinearen Sprache und sucht nach Ideen in dem Dickicht von Vorstellung jenseits von Sinn. Earls Texte sind elliptisch, voller Bewegung, aber ohne Struktur. Vielleicht ist das die endgültige Emanzipation von der Intellektualität und der Sprache seiner Eltern. Sein wie in Interviews aus dieser Zeit oft erwähnter, abwesender und 2018 verstorbener Vater, war der südafrikanische Dichter und politische Aktivist Keorapetse William Kgositsile.

Auf seinem neuen Album „Sick!“ arbeitet Earl Sweatshirt nach wie vor gegen Konventionen sprachlicher und musikalischer Natur, aber das Terrain wird zugänglicher und einladender für die Hörerinnen. Bei früheren Stücken hatte man das Gefühl, Earls Schaffen war nach innen gerichtet. Musik war sein Zufluchtsort, an dem er seine Seelenpein sezierte, sodass sie verschwinden möge. Bei „Sick!“ entsteht der Eindruck, Earl Sweatshirt adressiert die Außenwelt. Es bricht etwas auf. Earl spricht nicht in einen Tunnel hinein, sondern schickt seine Worte hinaus. Er erkundet zum Beispiel in der Nummer „Vision“ die pandemische Welt um ihn herum sogar mit Emphase und Wohlwollen für seine Familie und Crew

Plattencover mit zusammengestellten Dingen: ein Bilderrahmen, Räucherwerk, Earls Gesicht mit Maske, Pillen, diverse Fotografien

Earl Sweatshirt

„Sick!“

Earl Sweatshirt rappt relativ straight und auch die Beats, die diesmal langjährige Kollaborateure wie The Alchemist, Black Noi$e und Samiyam für ihn gemacht haben, sind sich wiederholende Samples und eine rhythmische Struktur, auf der Earl Sweatshirt aber nach wie vor sprachliche Kapriolen mit großer Virtuosität schlägt.

Ohne Punchlines oder Effekthascherei führt uns Earl Sweathirt in ein Reich jenseits des Spektakels, wo die Kraft des Geistes und der Fantasie heller strahlt als aller Glitz und Glam.

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