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Tory-Überläufer Christian Wakeford mit Union-Jack-Schutzmaske inmitten von Labour-Abgeordneten im englischen Unterhaus

APA/AFP/UK PARLIAMENT/JESSICA TAYLOR

ROBERT ROTIFER

Big Dog muss bleiben

Ein Versuch, aufzudröseln, was eigentlich hinter der derzeitigen britischen Regierungskrise steckt. Warnung: Kann durchaus zu Schwindelanfällen führen.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Wursthersteller*innen erzählen ja aus gutem Grunde nie, wie Würste hergestellt werden, und sollten damit dem Journalismus zum Beispiel dienen, hier aber ausnahmsweise ein kurzer Blick in meinen Fleischwolf:

Das Problem an dieser Kolumne ist ja, dass ich sie schon zum x-ten Mal angehe. Jedes Mal, wenn wieder irgendwas dazwischen kommt (das Teewasser kocht, der Laptop geht ein, so Dinge...), hat sich in der Zwischenzeit wieder alles geändert , und ich muss hier wieder von vorne anfangen.

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Hintergrund ist natürlich der eh schon in meiner Kolumne vor einem Monat thematisierte Skandal der während des Lockdown und sonstiger Covid-Restriktionen der Jahre 2020/21 in der Downing Street Nummer 10 abgehaltenen Partys, seither erweitert um diverse besoffene Geschichten von ruinierten Kinderschaukeln im Hintergarten der Premierministerresidenz und an der Polizeiwache vorbei geschleusten Koffern voller Weinflaschen. So geschehen am 16. April 2021 aus Anlass einer feuchtfröhlichen DJ-Session im Downing Street-Keller bis um zwei in der Früh, just in der Nacht vor dem Begräbnis von Prinz Philipp, bei dem selbst die Königin wegen der strengen Covid-Verordnungen mutterseelenallein auf der Kirchenbank sitzen musste (was in der hierarchischen britischen Gesellschaftsordnung offenbar noch viel schwerer wiegt als die verletzten Befindlichkeiten sämtlicher Untertanen zusammengenommen).

Wisst ihr eh alles, nehme ich an.

Und die erste Frage dazu wäre natürlich gewesen, warum es solange gebraucht hat, bis diese Dinge an die Öffentlichkeit kommen, warum ausgerechnet jetzt, und wer eigentlich dahinter steckt. Die Antwort darauf ist eher nicht Johnsons gefeuerter Ex-Berater Dominic Cummings. Denn der hüpft derzeit wie ein Rumpelstilzchen auf und ab und tönt dabei, er würde unter Eid schwören, dass Johnson lügt, wenn er behauptet, er sei nicht auf eine Party-Einladung seines eigenen Kabinettchefs Martin Reynolds aufmerksam gemacht worden. In anderen Worten: Klingt nicht so, als hätte Cummings noch weitere Belege parat.

In der Drehtür zwischen Downing Street und Medien

Jenes spezifische, von Reynolds unter der Parole „Bring your own Booze“ („bring deinen eigenen Alk“) per Email ausgerufene Fest wurde zur Verabschiedung von Johnsons damaligem „Director of Communications“ abgehalten. Jener Mann mit dem schönen Namen James Slack hatte zuvor unter anderem beim Daily Express und der Daily Mail gearbeitet (auf sein Konto ging unter anderem die Brandmarkung dreier Richter als „Volksfeinde“ auf der Titelseite der Mail im November 2016). Slack sollte nun direkt von der Downing Street in die Politik-Redaktion der auflagenstärksten Tageszeitung The Sun wechseln, daher das Abschiedsfest.

Die zweite Frage, ob die britische Presse schon früher von Partys in der Downing Street erfahren hätte können, erübrigt sich also auch gleich. Aber hey, dieser Aspekt der Story ist jetzt schon fast eine Woche alt, daran erinnert sich heute schon wieder gar niemand mehr.

So oder so war es das reinste Theater, eine Nachrichten-Sendung wie BBC Newsnight anzusehen, in der die Moderatorin ganz konsterniert mit der Vize-Politikchefin der konservativen Wochenzeitung The Spectator Boris Johnsons angeschlagene Glaubhaftigkeit debattiert, ohne etwa zu erwähnen, dass deren unmittelbarer Chef James Forsyth mit der Anfang Dezember ganz zu Beginn der Party-Affäre geschassten ehemaligen Downing Street-Pressesprecherin Allegra Stratton verheiratet ist. Die Moderatorin schwieg darüber, weil sie auch kein Interesse hatte, uns daran zu erinnern, dass Stratton in den Jahren zuvor die Politikchefin von Newsnight gewesen war.

Ich könnte hier noch endlos viele Verknüpfungen aufzählen, aber der Punkt bleibt derselbe: Der britische Politikjournalismus, von der Presse in privater Hand bis hin zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk, ist mittlerweile so eng mit dem Objekt seiner Berichterstattung verbunden, dass sich zwischen den beiden eigentlich nicht mehr unterscheiden lässt.

Und im Fall des derzeit laufenden Zu-Fall-Bringens von Boris Johnson lässt sich dieses inzestuös degenerierte System nun bei seiner Selbstzerfleischung beobachten. Dabei reicht es schon lange nicht mehr zu wissen, wer im Job-Karussell zwischen Regierung und Medien gependelt ist, um die entscheidenden Loyalitäten festzumachen.

Denn die Labour-Opposition mag wohl Blut geleckt haben und in den Umfragen mit bis zu elf Prozent vorne liegen, die politisch entscheidende Schlacht spielt sich aber innerhalb der Konservativen ab.

Warum der Angriff auf die BBC?

Wenn beispielsweise die Johnson-loyale Kulturministerin Nadine Dorries vor drei Tagen drohte, der BBC die allgemeinen Rundfunkgebühren als Finanzierungsmodell abzudrehen, mochte man sich ja eigentlich fragen, was die Regierung eigentlich noch alles will. Schließlich ist der BBC-Generaldirektor Tim Davie selbst ein Ex-Tory-Politiker und ihr Chairman Richard Sharp ein konservativer Parteispender.

Sicher, die BBC ist als vorgebliche Bastion des metropolitanischen Liberalismus ein ewiges Feindbild der britischen Rechten und somit eine logische Beute der sogenannten „Operation Red Meat“ - so der interne Name für den Versuch der Downing Street, die eigene Fraktion und den populistischen Boulevard mit reichlich rohem, rotem Fleisch abzufrühstücken.

Ein konkreterer Hinweis auf die Hintergründe des Angriffs auf die BBC findet sich aber auch in einem BBC-Online-Artikel vom Vorjahr, in dem der BBC-Medienredakteur Amol Rajan den damals frischgebackenen Chairman der Rundfunkanstalt als engen Vertrauten des derzeitigen Schatzkanzlers Rishi Sunak porträtierte.

Sharp war bei Goldman’s Principal Investments Sunaks Chef gewesen und hatte sich später als Mitglied des Vorstands des einflussreichen konservativen Think Tanks Centre for Policy Studies für Sunaks Sache stark gemacht.

„Ich höre, dass der Schatzkanzler leicht verstimmt war, zu einem derart entscheidenden Zeitpunkt so einen engen Verbündeten zu verlieren“, schrieb Rajan, „aber er ließ sich von den Vorzügen davon überzeugen, dass Sharp seine neue Rolle bei der BBC übernahm.“

Abgesehen von der verblüffenden, folgenlosen Offenheit, mit der hier auf der BBC-Website über politischen Einfluss berichtet wurde: Sunak rangiert momentan neben der Außenministerin Liz Truss als Boris Johnsons wahrscheinlichster Nachfolger und somit derzeit gefährlichster Rivale, Sharps Nähe zu Sunak schützt die BBC derzeit also auch nicht. Ganz im Gegenteil.

Blaue Blackmail im Red Wall

Doch selbst dieser Aspekt ist nach dem heutigem Stand des Intrigenspiels eigentlich bereits Schnee von vorgestern. Denn inzwischen ist bereits ein offener Kampf zwischen der „Operation Save Big Dog“ (so der unfassbare Codename innerhalb der Downing Street für die Kampagne zur Rettung des „großen Hunds“ Boris Johnson) und rebellischen Parlamentarier*innen aus seiner eigenen Fraktion ausgebrochen.

Gestern wechselte mit Christian Wakeford ein Abgeordneter aus dem bei den Wahlen 2019 konservativ gewordenen, sogenannten „Red Wall“, des vorwiegend proletarischen englischen Nordens, zu Beginn der Unterhaus-Sitzung sehr spektakulär auf die Labour-Bänke (siehe Aufmacherbild, der Mann mit der Union Jack-Maske).

Und heute berichtete sein konservativer (Ex-)Kollege William Wragg einem parlamentarischen Komitee darüber, dass die Einpeitscher der Tory-Unterhaus-Fraktion unloyalen Parlamentariern mit Entzug staatlicher Förderungen für ihre Wahlkreise und der Veröffentlichung peinlicher, persönlicher Geschichten in den Medien drohen. Er rief dabei Kolleg*innen auf, derlei „Blackmail“ (Erpressungsversuche) der Metropolitan Police zu melden.

Genau jener Exekutive also, die bereits erklärt hat, sie werde zu den offensichtlichen Brüchen der Lockdown-Verordnungen in der Downing Street keine Ermittlungen anstellen, zumal jene ja schon weit zurücklägen. Ein interessantes neues Prinzip der Verbrechensbekämpfung. Aber andererseits wären solche Ermittlungen auch für die Polizei sicher nicht so angenehm, müsste man da doch nötigenfalls so tun, als hätte man nicht mitgekriegt, was im Garten des Hochsicherheitsbereichs Downing Street vorgegangen wäre.

Euch wird aufgefallen sein, dass ich hier – im Gegensatz zur derzeitigen Obsession der britischen Medien – noch kein einziges Wort zu Boris Johnson selbst verloren habe. Zu seinem ewigen Rückzug von einer Ausrede zur nächstdümmeren, gestern gipfelnd in der Aussage, niemand habe ihm gesagt, dass Umtrünke im Lockdown verboten gewesen seien. Da kann ich nur sagen: Dass Big Dog kein näherer Bekannter der Wahrheit ist, war uns eigentlich schon länger bewusst.

Wer sich – auch im Gegensatz zu den britischen Medien – noch daran erinnert, wie er 2019 zur Durchsetzung seiner Brexit-Linie zwischenzeitlich das Parlament ausschaltete, kann auch nicht wirklich davon überrascht sein, dass Johnson nun zur Verteidigung seiner eigenen Haut eine nationale Institution wie die BBC mit sich in den Abgrund zieht.

Dass er mit seiner Weigerung, Verantwortung für die Vorgänge in der Downing Street zu übernehmen, indirekt dem Ansehen der Metropolitan Police schweren Schaden zufügt. Und seinen eigenen Beamt*innen, inklusive der Permanent Secretary des Kabinetts Sue Gray, die nun den unmöglichen Auftrag hat, in ihrem groß angekündigten Report zu den dortigen Partys gegen die eigenen Kolleg*innen zu ermitteln.

Oder dass er – ebenfalls als Teil erwähnter Operation Red Meat – in Gummibooten über den Ärmelkanal kommenden Flüchtlingen die Royal Navy auf den Hals hetzen will.

Denn all das wird nur durch oben beschriebenes System der Verbindungen und Abhängigkeiten ermöglicht, das sich nach dem Abservieren Boris Johnsons ein neues, wählbareres Gesicht verpassen wird. Insofern ist der Opposition zu wünschen, dass die Operation Save Big Dog so lange wie möglich durchhält und ein angeschlagener Johnson einstweilen in Amt und Unwürden bleibt. Zumindest bis zu den nächsten Lokalwahlen im Mai.

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