Monika Helfer: Löwenherz
von Zita Bereuter
“Well, I’m so tired of crying
But I’m out on the road again”
Dies singt Alan Wilson von Canned Heat in den frühen 70ern in „On The Road Again“. Es ist einer der wenigen Songs der Band, die Richard gut fand. Richard schaute dem Sänger ähnlich. Die Locken, das Gesicht, die Lässigkeit. „Er sah aus wie der hübsche Bruder von Alan Wilson, dem Sänger von Canned Heat, der war damals schon tot, er hatte sich mit siebenundzwanzig das Leben genommen – Richard würde es mit dreißig tun.“ Erzählt Monika Helfer bereits auf der zweiten Seite. Sehr früh weiß man also um das tragische Ende ihres Bruders.
Richard war Schriftsetzer. Gut im Handwerk, wenngleich ohne Ambitionen und Ehrgeiz. Lieber hat er gemalt, gekifft und geschaut, was auf der Welt passiert, was das Leben so bringt. Als Kind wurde er von offizieller Seite als „Luftikus“ beschrieben und „Er spricht nicht viel“. Als Erwachsener hingegen wurde er zum G’schichtldrucker, verzauberte mit seinen Erzählungen und sprang dabei gern vom Hundertsten ins Tausendste. Detailverliebt war er auch in seiner naiven Malerei - neben dem Lesen eines seiner wenigen Hobbies. Richard hatte eine lange Leitung und spielte wichtige Szenen und Gespräche im Leben gerne nach, um sie sich zu merken. Vorzugsweise vor seiner Schwester Monika. Aus diesen Erinnerungen schöpft sie im autofiktionalen Roman „Löwenherz“, dem dritten Teil ihrer im besten Sinn unglaublichen Familiengeschichte.
Foto: Helmut Klapper, Vorarlberger Landesbibliothek
“And my dear mother left me
When I was quite young”
Aus den ersten beiden Bänden dieses Familienportraits, die beiden Bestseller „Die Bagage“ (2020) und „Vati“ (2021), weiß man, dass die Mutter der beiden sehr jung starb, Richard war damals ein Kleinkind. Er wuchs bei einer Tante in Feldkirch auf, Monika bei einer anderen Tante in Bregenz. Dennoch, oder gerade deswegen, fühlte sie sich als sechs Jahre ältere Schwester immer verantwortlich für Richard. Sie beschreibt ein enges Verhältnis: Er ging bei ihr ein und aus wann immer es ihm passte, konnte sich aber ebenso auch lange Zeit nicht melden.
Zita Bereuter / Hanser Literaturverlage
“But I ain’t going down
That long old lonesome road
All by myself”
Richard war gern allein. Eine Art Sonderling, mit einem unbedingten Freiheitsdrang. Das engste Verhältnis hatte er zu einem zugelaufenen Straßenhund, den er nach dem babylonischen Sonnengott benannte: „Schamasch“. Den Hund liebte er bedingungslos. Ebenso ein kleines Mädchen. Dieses sei eine fiktive Figur, erklärt Monika Helfer im Interview mit dem ORF. Für sie war das Erfinden dieser Figur geradezu „erlösend“. „Ich wollte ihm etwas geben, das er liebhaben kann.“
Offensichtlich war es für ihn mit der Liebe schwierig. Monika Helfer schreibt von einem Gespräch, in dem Richard, der gern las, einen Satz zitiert: „‚Liebe und Angst gehören zusammen.‘ Und ich sagte darauf, und das war kein Zitat, das war von mir, wie ein Reim darauf: ‚Die eine befördert die andere, die andere verdirbt die eine.‘“
Am Mittwoch, 26.1.,
stellt Monika Helfer „Löwenherz“
im Theater Kosmos in Bregenz vor.
Beginn: 19:30 Uhr
Mit Strukturen, Regeln und Vorschreibungen konnte Richard nicht viel anfangen. Lieber vertraute er dem Lauf der Welt – mit einer faulen Mischung aus Naivität und Gleichgültigkeit. Michael Köhlmeier, der damals noch der Liebhaber Monikas und ein enger Freund Richards war, beschreibt ihn im Roman: „Ich weiß niemanden, dem das Leben so wenig wichtig war wie dem Richard. (…) Ihm wäre es interessanter gewesen, in einer Badewanne über den Rheinfall zu stürzten, als wichtiger, dabei zu überleben.“
Hinzu kommt ein besonderer Stolz oder eine Verweigerung von Tatsachen, die auch die Erzählerin teilte: „Und schwimmen konnte er nicht gut. Er sagte: ’"Ich kann gut schwimmen, aber nur, wo ich noch stehen kann.’ Also konnte er nicht schwimmen. Ich kann es auch nicht. Das hätten wir nie zugegeben. Lieber wären wir ertrunken.“
“That long old lonesome road
All by myself
I can’t carry you, baby
Gonna carry somebody else”
Ohne Pathos und Kitsch erzählt Monika Helfer vom kurzen Leben ihres Bruders Richard. In Fragmenten erinnert sie sich an das Baby, das Kleinkind, den Erwachsenen. Immer wieder reflektiert sie über das Geschriebene, bespricht diese Erinnerungen mit ihrem Mann, gibt Lücken zu und wundert sich mitunter selbst. „Aber vielleicht vermerkwürdige ich ihn.“
Foto: Helmut Klapper, Vorarlberger Landesbibliothek (CC BY 4.0)
Dabei bleibt sei frei von Sentimentalitäten und vor allem auch von Vorwürfen oder Verurteilungen. Wenn sie von Richard erzählt, den der Vater liebevoll „Löwenherz“ nannte, erzählt sie auch sehr viel von sich. Von ihrem Leben, ihren Beziehungen, ihrem Schreiben. Und von den mitunter komplizierten Dynamiken innerhalb einer Familie.
Schließlich ist das dreiteilige Familienportrait fertig. Alle abgebildeten Figuren schauen den Betrachter an. Wie auf Richards Bildern: „Alle Menschen schauen dem Betrachter direkt und starr in die Augen. Als wäre das Gesicht des Betrachters plötzlich über ihrem Horizont erschienen und der Schrecken hätte sie starr gemacht.“
Man kann dem Blick manchmal kaum standhalten. Kann ihn aber auch nicht lösen. Man schaut und staunt.
Was für eine Geschichte!
Was für eine Familiengeschichte!
Was für eine Familie!
(* alle Songzitate aus „On The Road Again“ von Canned Heat)
Publiziert am 26.01.2022