FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Tocotronic "Nie wieder Krieg"

Gloria Endres de Oliveira

„Music and Lyrics gegen die Vereinzelung“: Tocotronic haben ein neues Album

Der Wunsch nach Einordnung und Verarbeitung unserer Zeit ist groß. Ausgerechnet ein Album, das vor der Pandemie geschrieben wurde, kann das mit scheinbarer Leichtigkeit leisten. Auf ihrem 13. Album „Nie wieder Krieg“ verhandeln Tocotronic die prägenden Gefühle der Gegenwart. Seit 29 Jahren ist die Band ein Anker der deutschsprachigen Rockmusik – mehr Lebensbegleitung als jedes Facebooklike.

Von Claus Diwisch

„Passend zur Zeit“ sagen Tocotronic – aber nicht nur im Angesicht eines drohenden Krieges in Europa ist die Band treuer Begleiter und Bildhauer der Gefühle. Auf ihrem neuen Album „Nie Wieder Krieg“ zeichnen sie präzise musikalische Bilder über Sehnsüchte, Verwundbarkeit und Zwiespältigkeit, die sich trostvoll in diese Zeit einfügen. Dabei tauchen klingende Parolen auf, die nie oberflächlich bleiben – hinter den kräftigen Slogans stecken facettenreiche Empfindungen, alle Spielarten des Lebens, aber vor allem, wie man es von Tocotronic kennt, Aussagen über die eigene Zerrissenheit. Die Band selbst nennt es: „entwaffnend persönlich“.

Ein Album, das Trost spendet

Zuerst mag man es kaum glauben, dass die Lieder schon vor 2020 geschrieben wurden, denn überraschend oft sind sie die musikgewordenen Gefühle unserer (pandemischen) Zeit – nur, dass sie eben Positives bewirken. Nicht zuletzt zitiert die Band schon seit vielen Jahren bei ihren Liveshows den Jazzmusiker Albert Ayler mit „Music is the healing force of the universe“. Sänger Dirk von Lowtzow sagt dazu im Interview: „Es braucht [in den Liedern] auch immer genau diese Momente tiefster Verlassenheit, oder existenzieller Einsamkeit, um bei den Hörer*innen ein Gefühl von Gemeinschaft zu erzeugen, sodass sie sagen: Es geht uns auch so und da leidet jemand stellvertretend für uns. Und das gibt dann Hoffnung.“

Tocotronic "Nie wieder Krieg"

Vertigo Berlin

„Nie wieder Krieg“ von Tocotronic erscheint am 28.1.2022

Eine trostvolle, verarbeitende und hoffnungsstiftende Wirkung hat das Album jedenfalls. Beeindruckend ist dabei schon, dass sie das überwiegend nicht mit positiven Themen erreichen, sondern indem sie die Abgründe besingen. Das Album schwingt von sanfter Zerbrechlichkeit und subtilem Witz hin zu rockigen, antifaschistischen Botschaften. Die düsteren Ecken sind fein verteilt, meistens poltern die Gitarren energievoll hinter Dirk von Lowtzows Sprachwelten. Selbst Zeilen wie „Das ist ein Hilfeschrei, ich bin noch nicht vorbei“ werden zärtlich, aber nie weinerlich und meist mit Wumms vorgetragen. Erst bei den Bonustracks wird es richtig bedrückend und melancholisch.

Wer sich an Querverweisen erfreuen kann, wird bei Tocotronic Spaß haben. Viele Lieder knüpfen auf die eine oder andere Weise an alte an. Da, wo am letzten Album noch gesungen wurde „Was ich geschrieben habe, wird jetzt ausradiert [...] Papier und Graphit und Vinyl, auf den Müll damit“ steht jetzt im letzten Bonus Track „Sirius“ die Fortsetzung dieses Gedankens: „Ich schreibe weiter – eine Flucht. Gewohnheit oder Geltungssucht?“ Die Musik von Tocotronic – man muss sie als zusammenhängendes „Werk“ bezeichnen.

Die Idee der Selbstauflösung

Tocotronic arbeiten seit jeher an der Idee von Größe durch die Befreiung von dem Zwang, stark sein zu müssen. Was 2007 auf dem Album „Kapitulation“ erstmals in Zeilen wie „Mein Ruin ist mein Triumph“ konkret geworden ist, setzt sich heute in brutal ehrlich dargestellter Zerbrechlichkeit fort. Was damals noch mehr Idee war, wird heute in den Songs in aller Offenheit und entwaffnet gelebt.

In den dunkleren Stellen des Albums zeigt sich das in persönlichen Zeilen wie: „Hier seht ihr wie ein Mann zerfällt“, oder in den Bildern von körperlichen und psychischen Gebrechlichkeiten „als ob mir der Tod ins Herz geschrieben wird“. Die Band versteht es als künstlerische Position, mit Zerrissenheit zu spielen. Wahre Stärke in der Schwäche – seit Gründung der Band eine Hoffnung und Erlösung für alle Freaks und Ausgeflippten. In dem Understatement und Vorzeichentausch sind sie alle befreit vom Zwang der Leistung.

Tocotronic "Nie wieder Krieg"

Gloria Endres de Oliveira

Dagegen sein

In der typischen tocotronischen Gespaltenheit hat aber auch alles zwei Seiten – auf der einen Seite der Wunsch nach Liebe, auf der anderen Seite die Ablehnung. Im Dazwischen ist da, wo sich Tocotronic abspielt. Großzügig, offen, vielseitig. Und wie keine anderen Künstler*innen gleichzeitig bescheiden und größenwahnsinnig.

Dirk von Lowtzow: „Genau in dieser Ambivalenz bewegt sich fast alles, was wir in den vergangenen 30 Jahren gemacht haben. Es gibt immer diese Stücke, die eine große Sehnsucht ausdrücken, nach Gemeinsamkeit, nach Solidarität, nach dem Aufgehen in Gemeinschaft. Das fängt schon mit ‚Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein‘ und ähnlichen Songs an. Und es gibt gleichermaßen die Stücke, die sagen: ‚Alles was ich will ist nichts mit euch zu tun haben‘, wo es um eine große Angst vor Vereinnahmung geht. Und ich glaube, in diesen zwei entgegengesetzten Polen entsteht ein Widerstreit, der ganz charakteristisch ist für das, was wir machen.“

Auf dem neuen Album wird das Dagegensein auch wieder erfrischend konkret. Im Song „Jugend ohne Gott gegen Faschismus“ wird den Eliten mit Ablehnung begegnet, es findet sich darauf die Zeile: „Auf der Straße siehst du Dinge, die Du alle nicht besitzt – Diamanten, Silberringe, die Du mit Füßen trittst“. Das beschreibt die Ablehnung einer Generation, die keine Aussicht mehr auf präpotenten Luxus hat. Besser kann man den jugendlichen Zeitgeist nicht in Musik fassen.

Der Sound

Musikalische Muster tauchen bei Tocotronic immer wieder auf, entwickeln sich etwas weiter und man ahnt schnell, in welche tocotronische Kategorie man einen Song stecken kann. Die Nummern wurden zum Teil live aufgenommen, was ihnen gut tut und hörbar eine Natürlichkeit und Rohheit gibt.

Aber noch eine kleine musikalische Überraschung findet sich auf dem Album. „Nachtflug“ heißt der Song, der stark an die schon lange nicht mehr gehörten Tocotronic-Ästhetiken der 90er Jahre erinnert. Dirks Gitarre wabert darauf wie einst in „Für immer dein Feind“, Jan Müllers Bass wummert wie in „Die Grenzen des guten Geschmacks 2“ und Arne Zank macht lustige Drumfills. Dirk von Lowtzow: „Das ist ein lustiger Moment gewesen, als wir das Stück einstudiert haben. Wir hatten gleich das Gefühl, das ist total Oldschool-Tocotronic und fanden das sehr lustig. Wir haben uns alle gleichzeitig gefreut und totgelacht darüber, wie sehr das an bestimmte musikalische Ästhetiken aus den 90er Jahren erinnert. Fast schon an Dreampop-Spielarten von Bands wie Galaxie 500, von denen wir damals große Fans waren. Manchmal ergibt sich so etwas und dann kann man das zulassen“.

Besonders erwähnenswert ist auch das erste Duett der Bandgeschichte. In Zusammenarbeit mit Anja Plaschg aka Soap&Skin entstand mit „Ich tauche auf“ eine unnahbare, geschwisterliche Liebesgeschichte. Zart und zerbrechlich windet sich das Lied um einen Schlund, aus dem es kein Entkommen gibt. Social Distancing gibt es im Video auch nicht – für Tocotronic eine ungewöhnlich neue Ebene der Nähe.

Ein seltsamer Schönheitsfehler

Und bei allem Lob, das man dem Album zutragen kann, ist der Band auch ein seltsamer Fehler passiert – man möchte fast sagen ein Schönheitsfehler. Das Lied „Ich hasse es hier“ ist im besten Sinne albern, nein: humorvoll. Zumindest ist es so gemeint. Zuerst heißt es in der großartigen Zeile: „Wie eine Pizza, die man aufzupeppen versucht – mit Kräutern der Provence hab ich keine Chance“. Aber dann singt Dirk von Lowtzow die Zeile „Ich hasse es hier“ ein paar Mal so unglücklich, dass es kaum anders zu verstehen ist als „Ich hasse sie“.

„Sie“ würde dann aber nicht die Pizza meinen, sondern die Frau, die ihn in dem Lied verlassen hat. Versteht man es so, wird das Lied zu einem Hasslied gegen eine Frau, die gegangen ist. Man muss nicht weiter ausführen, warum das gelinde ausgedrückt heikel ist. Dirk betont im Interview, dass das in keinem Fall so gedacht war: „Ein Lied in dem der Satz ‚Ich hasse sie‘ vorkommt, würde ich nie schreiben." Und das würde von Tocotronic auch niemand erwarten – im Gegenteil wird das Gegenüber in den Texten seit „Du bist hier nicht in Seattle, Dirk“ im Jahr 1993 immer ohne Geschlecht angesprochen. Dass es sich hier also um einen phonetischen Zufall, einen technischen Fehler, ein Missgeschick handelt, ist klar, aber dennoch ärgerlich. Und verwunderlich ist gleichermaßen, dass das nicht schon im Entstehungsprozess aufgefallen ist.

Die Lebensbegleiter Tocotronic

Dieses Album kann ein treuer Begleiter in einsamen Nächten sein. Es ist präzise und vielfältig, zeichnet aber auch laute Bilder von Unkonkretem. Ein Fest der Widersprüchlichkeit, befreit von jedem Zwang. Tocotronic, die Band für die Zweifelnden, treffen den Nerv der Zeit in ihrem Prozess der Selbstauflösung.

mehr Musik:

Aktuell: