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Swell Maps

Jowe Head

im sumpf

Swell Maps: Auferstehung der Untoten

Das legendenumwobene Gespann Swell Maps trug sich vor gut 40 Jahren selbst zu Grabe. Nun wagt sich Gründungsmitglied Jowe Head daran, das Mausoleum zu öffnen: Man höre und staune, es lebt!

Ein Gastbeitrag von Clemens Marschall alias Rokko

Die Swell Maps waren – und das will als unterstrichenes Kompliment verstanden werden – eine Combo äußerst spezieller Bauart: Sie schälten sich ab 1972 aus einer Gruppe experimentierfreudiger Teenager heraus und brachten ihr erstes Album Jahre später, 1979, zur Welt. Durch diese zeitliche Diskrepanz standen sie mit einem Fuß im Proto-, mit dem anderen im Postpunk, versehen mit den Avantgardeexperimenten jugendlichen Forschungsdrangs, einer Prise Glam, einer Dosis Krautrock.

Das vollständige Gespräch mit Jowe Head gibt es am 30.1.2022 ab 21 Uhr in FM4 im Sumpf zu hören.

Die Jungspunde rauften sich in Solihull, einem langweiligen Vorort Birminghams zusammen, der höchstens wegen seiner Autoindustrie von Begriff war. Als winzige Fußnote der devianten Geschichtsschreibung sei erwähnt: Genesis P-Orridge ging zur selben Schule wie einige Swell Maps – und sorgte in Solihull schon als Heranwachsender mit öffentlichen Performances für Angst und Schrecken; lange, bevor er mit Throbbing Gristle das Industrial-Genre begründen sollte.

Swell Maps kleine Aufsteller / Kartonfigürchen

Clemens Marschall

Eine Installation von Mark Flunder (Television Personalities), die am 3. und 4. Dezember 2021 im Café Oto gezeigt wurde.

Swell Maps

Jowe Head

Jowe Head im Café Oto

Lokale Bands gab es in Solihull jedoch keine, also tat sich ein Kreis um die Swell Maps zusammen, auch wenn er damals noch nicht so hieß: Sieben, acht Freunde trafen sich nach der Schule und faxten, je nachdem, wer Zeit hatte, in verschiedenen Konstellationen herum. Es gab wohl mehr Projektnamen als Beteiligte, und am Anfang hatte das gezwungenermaßen eher mit Experiment zu tun als mit herkömmlicher Musik: Billige Gitarren mit fehlenden Saiten wurden zu Kuchenblech und Kazoo angestimmt; Haushaltsgeräte mit verstimmtem Klavier und zerschredderten Verstärkern kombiniert: zuerst im Kinderzimmer, erst Jahre später im Studio. Die Swell Maps waren nur eines von vielen Projekten aus diesem Dunstkreis – aber unzweifelhaft jenes mit dem größten Einschlag. Ihre Kernbesetzung bestand aus Nikki Sudden – Gitarre und Gesang, seinem jüngeren Bruder Epic Soundtracks – Schlagzeug und Klavier, Richard Earl an der Gitarre, und Jowe Head am Bass.

Das Debütalbum „A Trip to Marineville“ (1979) wurde, wie sämtliche Swell Maps-Tonträger, mit Oberhand ihres eigenen Labels Rather Records veröffentlicht. Sie arbeiteten zwar mit anderen Plattenfirmen wie Rough Trade zusammen, aber behielten stets Rechte und Kontrolle: ein konsequenter DIY-Zugang, der damals nicht als hip, sondern als unglaublich bis unverschämt galt.

Die Bandkumpanen lebten mittlerweile verstreut über England, drei von vier besuchten Kunsthochschulen in verschiedenen Städten. Jowe Head landete in Manchester, wo ihn Kay Carroll, die berüchtigte Managerin der Band The Fall fragte, ob er bei ihnen als Bassist einspringen könnte. Er ließ diese Position in Mark E. Smiths Spezialkommando mit obligatem Schleudersitz aus und konzentrierte sich auf die Swell Maps.

The Fall waren die unumstößlichen Säulenheiligen von Radio-DJ John Peel, die von 1978 bis 2004 insgesamt 24 seiner legendären Sessions aufnahmen. Doch auch die Swell Maps unterstützte er von Anfang an und sie brachten es immerhin zu drei Peel-Sessions. Wenn er sie nicht so eindringlich gefeaturt hätte, meint Jowe Head retrospektiv, hätten die Swell Maps nicht so lange durchgehalten.

Swell Maps

Jowe Head

Für Jowe Head kam statt Manchester bald London, wohin Bandkollege Nikki Sudden bereits zuvor gezogen war: um in einem miesen Souvenirladen herumzutrödeln. Der halbherzige Postkartenverkäufer war der einzige von den Swell Maps, der auf Kunst und ihre Institutionen verächtlich hinabrotzte, und auch die musikalischen Gräben zwischen ihm und dem Rest der Band wurden zunehmend tiefer: Während Nikki Sudden irgendwo zwischen T-Rex und Rolling Stones den Heiligen Gral des Rock’n‘Roll finden wollte, gingen die anderen Swell Maps lieber unkommerzielle Studioexperimente mit Staubsaugern und Wasserleitungen ein. Auf ihrer Italientournee 1980 löste sich die Band schließlich auf. Alle hatten die Nase voll davon.

Alle – außer Nikki Sudden.

Swell Maps

Jowe Head

Jowe Head: Swell Maps 1972-1980 (Sounds on Paper)

Ihr zweites Album „Jane from Occupied Europe“ nahmen sie dennoch kurz nach der Trennung auf und vollendeten es unter eher disharmonischen Vorzeichen. Zu einer Releasetour kam es nicht mehr, doch nachdem sich der Groll verzogen hatte, blieben die Swell Maps weiter in Verbindung. Es gab in den folgenden Jahren die eine oder andere Zusammenarbeit: wieder in verschiedenen Konstellationen mit verschiedenen Namen, fast so wie damals, als die Swell Maps noch im unausgegorenen Aggregatszustand ihrer Ursuppe dahingeplantscht waren.

Doch tragische Schicksalsschläge verhinderten Vieles, was noch hätte passieren können, und beendeten zwei Leben – lange, bevor ihre Zeit hätte abgelaufen sein sollen: Epic Soundtracks verstarb 1997, sein Bruder Nikki Sudden 2006.

Noch heute schüttelt Jowe Head seinen Kopf beinahe unglaubwürdig, wenn er darauf zu sprechen kommt, doch sein Leben hatte weiterzugehen. Er war bereits ein paar Jahre nach Auflösung der Swell Maps den nicht minder turbulenten Television Personalitys beigetreten und betreibt bis heute zahlreiche Bandprojekte. Diversen Lockdowns sei Dank, hatte er in den letzten zwei Jahren Zeit, die Archive in seiner Londoner Wohnung zu durchforsten und daraus eine wunderbar abgedrehte CD bzw. Doppel-LP mit unveröffentlichtem Material der Swell Maps zusammenzustellen: „Mayday Signals“.

Swell Maps "MayDay Signals" LP Cover

Easy Action Records

Swell Maps: „Mayday Signals“ 2 x LP Set (Easy Action Records)

Aber nicht nur das, bescherte ihm der Coronastillstand auch die nötige Ruhe, sein Buch über die Swell Maps-Jahre fertigzustellen, das die Geschichte mit unveröffentlichten Texten und Archivfotos von innen erzählt und mit einer exklusiven 7“-Single bisher ungehörter Aufnahmen daherkommt. Das verschmitzte Zeitdokument erscheint dieser Tage im Sounds on Paper-Verlag, bei dem niemand Geringerer als Steve Underwood seine Finger im Spiel hat, der auch als Begründer des Labels Harbinger Sound verantwortlich zeichnet, auf dem Releases von u.a. Sleaford Mods, Heavy Metal, Muscle Barbie, The Pop Group, Ramleh und Consumer Electronics erschienen sind.

Clemens Marschall
lebt und arbeitet als freier Journalist (Die Zeit, Radio Ö1) und Autor (u.a. „Golden Days Before They End“, „Avant-Garde from Below“) zwischen London und Wien und hat das formidable Magazin Rokko’s Adventures für Menschen, Tiere, Attraktionen gegründet.

  • Rokko’s Adventures auf fm4.orf.at: Das wunderbare Magazin über Popkultur, Literatur, krude Wissenschaften, Berichte über medizinische Experimente oder Porträts kurioser Persönlichkeiten

Doch weil kein Lockdown ewig dauern kann, und weil stille Archivarbeit durchaus lautstark zelebriert werden soll, brachte Jowe Head an einem Dezemberwochenende 2021 einen Konzertreigen auf die Bühne im Londoner Café Oto, bei welchem dem Œuvre der Swell Maps mit alten Weggefährten und frischem Blut neues Leben eingehaucht wurde. Das Publikum fand sich zwischen verschiedenen Zeiträumen wieder, die wie in einem abstrusen Kaleidoskop ineinandergriffen: Es ging gleichzeitig vorwärts in die Vergangenheit und zurück in die Zukunft. Auch Jowe Head, so scheint es, wurde von diesen frenetischen Abenden erst recht angestachelt und wird wohl nicht so schnell Ruhe geben.

Und falls die Welt mal wieder zusperren sollte: Seine Archive sind groß. Nach wie vor.

Das vollständige Gespräch mit Jowe Head gibt es am 30.1.2022 ab 21 Uhr in FM4 im Sumpf zu hören.

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