FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Szenenbild "Dear Evan Hansen"

Universal Pictures

„Dear Evan Hansen“: High School Musical, aber tragisch

Nicht jeder Bühnenerfolg lässt sich auf die Leinwand transferieren. Nach „Cats“ scheitert das Musical „Dear Evan Hansen“ als Film. Ein Unfallbericht.

Von Pia Reiser

Die erfolgreichsten Bühnenmusicals drehen sich um Großkatzen („The Lion King“), Hauskatzen („Cats“), Hexen („Wicked“), die französische Revolution („Les Miserables“) und Züge („Starlight Express“). Manche hängen einfach Ohrwürmer aneinander („Mamma Mia!“ und „Jersey Boys“) und fast alle sind Adaptionen eines bestehenden Stoffes. Kein Wunder also, dass der Ruf des Musicals nie der beste war, etwas altvaterisches und der Zeit entrücktes haftet dem Genre seit Langem an. Im letzten Jahr gab es erstaunlicherweise gleich vier Film-Musicals, die - auf ganz verschiedene Art und Weise - ausgezogen sind, um den Ruf des Genres zu retten: „Tick Tick Boom“, „West Side Story“, „Encanto“ und „Annette“. So ein guter Lauf kann nicht lange gut gehen und prompt ist dieser Tage „Dear Evan Hansen“ auf verschiedenen Streaming-Plattformen gelandet.

„Dear Evan Hansen“, das 2016 am Broadway Premiere gefeiert hat, dreht sich um einen 17-jährigen Schüler mit Angststörungen. Als Connor, ein Mitschüler, Suizid begeht wird Evan aufgrund eines Missverständnisses für dessen besten Freund gehalten und von der Familie des Verstorbenen quasi in die Familie aufgenommen. Aus Gründen, die nur in der Dramaturgie-Logik des Musicals einen Sinn ergeben, klärt Evan das Missverständnis nie auf.

Szenenbild "Dear Evan Hansen"

Universal Pictures

Gönnen wir Evan - wie so vielen Filmfiguren den Benefit of the Doubt und erkennen an, dass er sieht, wieviel es Connors Eltern bedeutet zu glauben, dass ihr Sohn doch einen Freund hatte. (Evan erschwindelt auch einen ganzen E-Mail Verkehr zwischen ihm und Conner, den er den Eltern zum Lesen gibt). Es ist aber auch so, dass Evan immer schon in Connors Schwester verliebt war und dank seiner Trösterrolle in der Familientragödie kann er jetzt viel Zeit mit ihr verbringen und aus einem Zusammenhalt aus Trauer wird langsam mehr. Wäre das eventuell ein guter Zeitpunkt, das Missverständnis aufzuklären und die wackelige Lügenpyramide einstürzen zu lassen? Nein, denkt sich Evan.

Das Vorbild aller Ausgeschlossenen

Evan Hansen wird nicht nur für die Familie zum Tor zum zu seiner Lebenszeit verschlossenen, wütenden, aggressiven Sohn, an der High School wird er - dank einer viral gehenden Rede (die natürlich ein Song ist) - zur Galionsfigur von ausgeschlossenen, sich alleine fühlenden Schüler*innen. Schwindelnde, lügende, täuschende und tricksende Filmfiguren sind nichts Außergewöhnliches, es ist nur die - auch recht hanebüchen konstruierte - Situation, wie Evan resultierend aus einem Suizid Nähe, Liebe, eine Ersatzfamilie, Anerkennung erhält, die einen während „Dear Evan Hansen“ irgendwo zwischen unangenehm berührt und ratlos zurücklässt. Denn das Musical ist nicht zynisch, es präsentiert uns Evan als Sympathieträger, einen schüchternen Jungen, der in einer Tragödie, in der eigentlich kein Platz für ihn vorgesehen war, über ein Schweinwerfer-Kabel stolpert, dadurch im Rampenlicht steht und sich dann denkt „Na, wenn ich schonmal da bin“.

Vermutlich ist das, wenn man „Dear Evan Hansen“ auf einer Bühne sieht, weniger ein Stolperstein als in der Film-Version, weil der Theaterraum und die Gegebenheiten und Möglichkeiten der Bühne einen doch immer daran erinnern, dass man in einem Theater ist, während Film die räumliche Distanz zum Zuseher auflösen kann und man viel eher dazu verleitet wird, das Geschehen im Film als reale Geschichte anzunehmen.

„Worüber man nicht reden kann, darüber soll man singen“

Dem könnte man natürlich wieder mit Mitteln der Verfremdung entgegenwirken, doch daran ist „Dear Evan Hansen“ nicht interessiert, es ist ein High School Film mit der Prämisse „Worüber man nicht reden kann, darüber soll man singen“. Inszeniert sind die Songs auch nicht in larger-than-life Musicalmanier, wo die Erzählung aufbricht, sondern nahe an der Bühnenversion, wo halt Dialog in Gesang übergeht. Was einerseits natürlich eh die erste Regel des Musicals ist, die aber hier gegen sich selbst arbeitet, nachdem der Film ja auch stets erklärt, dass Evan so schüchtern ist, dass er eigentlich mit niemandem reden kann, aber dann steht der kleine Sängerknabe im Polohemd im Wohnzimmer der Eltern des verstorbenen Connor und trällert eine herzerweichende Ballade über die unendliche Klassheit des Toten, da muss man halt schon dreimal vor dem Spiegel „Suspension of disbelief“ murmeln. Man wünscht sich, die Filmemacher hätten sich die Frage des Alt-Philosophen Brandown Flowers gestellt Are we human or are we dancers und sich für letzteres entschieden.

Szenenbild "Dear Evan Hansen"

Universal Pictures

Apropos disbelief. Gespielt wird Evan Hansen von Ben Platt, der den Teenager auch bejubelt am Broadway gespielt hat. Im Film war dann die Tatsache, dass ein 26-jähriger einen 17-jährigen spielt nicht nur Anlass für sehr viel Häme in der US-Kritik, sondern auch tatsächlich leicht verstörend. Dass Teenager nicht von Schauspieler*innen im Teenager-Alter gespielt werden, ist nichts Ungewöhnliches, das Problem hier ist eher, wie man versucht hat, zu verbergen, dass Platt 27 ist. Auf der Bühne hatte er einen Kurzhaarschnitt, für den Film hat man ihm einen Lockenkopf verpasst und die Regieanweisung gegeben, die Schultern stets zusammenzuziehen und leicht gebeugt zu gehen - wie es halt Teenager so tun!

Und so schaut Ben Platt in „Dear Evan Hansen“ einerseits aus, als wäre nach einer Explosion in einem Labor die DNA von Will Ferrell mit der von Jesse Eisenberg verschmolzen und andererseits wie der erfolgloseste Undercover Narc der Welt. Am Anfang der Filmversion von „Cats“ hatte ich die winzige Hoffnung, dass ich mich an die befellten Menschen auf zwei Beinen gewöhnen würde, sie als Filmrealität annehmen könnte, ähnlich ging es mir mit Platt als Schüler, die Hoffnung sie stirbt hier nicht zuletzt, sondern beim zweiten Close Up.

Die Hoffnung stirbt recht bald

Platt ist ein Theatre Kid inklusive all der Gestik und Mimik, die das manchmal mir sich bringt. Geschlossene Augen beim Singen, ein Zeigefinger der die Tonhöhe von gesungenen „Ohohohoho"s in die Luft pinselt, dann geöffnete Augen, die ans Ende des Zuschauerraums bzw. in die Bühnenscheinwerfer schauen: All das fällt einem auf einer Bühne nicht mal auf, in einem Film ist es seltsam-affektiert, zumindest im Falle von "Dear Evan Hansen“.

Nach 137 Minuten ist man dann ein wenig erschöpft wegen der vielen Botschaften, die einem theatralisch entgegengesungen werden und bleibt mit vielen Fragen zu Casting und Inszenierung - und einem Ohrwurm zurück. (Wem das alles jetzt immer noch nicht weird genug ist, hier ist Kevin Spacey mit einer „Dear Evan Hansen“-Parodie bei der Eröffnung der 2017 Tony Awards).

mehr Film:

Aktuell: