FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Shamir Bailey

Marcus Maddox

Best New Music

Shamir sprengt die Grenzen der „Heterosexuality“

Schwarz und Queer zu sein, ist basically das exakte Gegenteil der Norm - Multitalent Shamir hat sich musikalisch voll und ganz der Anti-Haltung verschrieben. Das neue Album „Heterosexuality“ ist heute unsere Best New Music.

Von Alica Ouschan

Seit seinen frühen Zwanzigern veröffentlicht Shamir aus Philadelphia noisige Songs über Identitätskrisen und mentale Struggels. Auf seiner neuen Platte analysiert er nicht nur sein tiefstes Inneres, sondern auch den Blick der Gesellschaft auf die marginalisierte Gruppe, der er angehört.

Cover "Heterosexuality"

Marcus Maddox

Heterosexuality ist beim Label AntiFragile Music erschienen.

„Heterosexuality“ ist bereits sein siebtes Album. Dass Shamir bis heute ein echter Geheimtipp bleibt, ist nicht unbeabsichtigt. Sie beschreibt sich selbst als „anti-career-driven“, möchte vor allem Musik für junge Schwarze, Queere Menschen machen, denen es an Vorbildern mangelt. Shamir will ihrer Community eine Stimme geben, ganz nach dem Motto: „Be the change you wish to see“.

Als nicht-binäre Person, die sowohl männliche, als auch weibliche Pronomen präferiert, hat sich Shamir nicht nur sehr früh mit dem eigenen nicht-hetero-Sein auseinandergesetzt, sondern auch mit der eigenen Geschlechtsidentität: “I think this album is me finally acknowledging my trauma.”

Gesegnet sei die „Gay Agenda“

Shamirs Kunst bewegt sich fern abseits davon, was sich als moderne Popmusik definiert und trotzdem könnte sie den Nerv der Zeit kaum exakter treffen. Der Sound speist sich aus einem wilden, aber gekonnt ineinandergeflochtenen Potpourri aus experimentellem Industrial Rock, noisigen Gitarren mit Elektropop-Elementen, Inspirationen aus Hip Hop und klassischem 90s Rock sind ebenfalls hörbar.

„It’s rare that guitar-based music touches on queer identity, queer issues - and also Black issues too. Giutar-based genres are typically ruled by straight white men - obviously they aren’t going to write about that“, sagt Shamir und sieht diese Tatsache als großen Ansporn, eine neue Perspektive in die Gitarrenmusik zu bringen und dieser dort ihren Platz zu verschaffen.

Shamir setzt sich in seiner Musik mit der eigenen Identität auseinander, versucht aus seinen Traumas auszubrechen oder sie anzuerkennen und einen Umgang damit zu finden. Shamir Baily ist in Las Vegas, Nevada aufgewachsen und muslimisch erzogen worden, beschreibt sich selbst aber nicht als gläubig, sondern als spirituell verbunden mit dem Universum. In seiner Inszenierung und Songtexten finden sich jedenfalls immer wieder Symbolbilder, die jedoch eher satanistische, als sakrale Vibes senden: Auf Fotos und Videos trägt Shamir Hufe und Hörner, in seinen Songs kämpft er gegen innere und äußere Dämonen.

Nicht selten vertreten streng gläubige Konservative auch heute noch die Meinung, dass Queerness Sünde sei und queere Menschen vom Teufel besessen. Auf sozialen Medien wird vor der „Gay Agenda“ liberaler Politiker*innen gewarnt und vom „Genderwahnsinn“ gesprochen. Shamir macht sich diese Debatte gleich im ersten Song auf „Heterosexuality“ zu eigen und lässt die „Gay Agenda“ hochleben: „Pray as much as you can, there’s no hope for me/I will see you in hell/I will be bringing the heat.“

Black & Queer Manifestos

Damit hat es sich aber auch schon wieder mit den Metaphern, denn Shamir findet immer klare Worte, spricht ihre Gedanken ohne Beschönigungen aus und überrascht mit ihrer brutalen Ehrlichkeit und ihrem rohen Klang immer wieder aufs Neue. Besonders auffällig und immer sofort wiederzuerkennen, ist Shamir nicht nur an den distorted Gitarren, sondern vor Allem an seiner Stimme.

Shamir ist ein sogenannter Counter-Tenor, das heißt, dass die Stimme zwischen männlichem und weiblichem Klang balanciert und sich, genau wie Shamir selber, nicht in bestehende Binaritäten einordnen lässt. Shamir selbst sagt über seine Stimme: „It’s not feminine, it’s not masculine. It’s a happy medium... I feel like if the world was more like that, our problems would be gone.“

Probleme kann Shamir zahlreiche aufzählen. Ob sie im Song „Cisgender“ ihre Befindlichkeit mit dem bei der Geburt zugewiesenen und ihrem tatsächlichen Geschlecht besingt und gleichzeitig versucht, der heteronormativen Gesellschaft zu erklären, dass ein Aufbrechen der einengenden binären Strukturen keine Gefahr für sie darstellt: „I am just existing“. Oder wenn Shamir in „Father“ auf zerrüttete Familienverhältnisse blickt.

“You’re just stuck in the box that was made for me / And you’re mad I got out and I’m living free.” (Gay Agenda)

Außerdem finden sich noch weitere Manifeste auf dem Album, etwa das mit politischen Messages gespickte „Abomination“, das Beziehungsstrukturen hinterfragende „Marriage“ oder auch die Empowerment-Hymne „Reproductive“. Sowohl die Auswahl der Song- und des Albumtitels, das Cover, die musikalische Stimmung - all das sorgt für eine Mischung aus beklemmenden Gefühlen und Aufbruchsstimmung.

Raus aus den Schubladen

Shamirs Musik sollten unbedingt alle auschecken, die experimentelle Sound-Kunst zu schätzen wissen, die sich näher mit Black & Queer Issues auseinandersetzen wollen und offen, für einen ungewöhnlichen, aber deutlichen Zugang sind. Für Fans von The Weeknd, sowie den Nine Inch Nails dürfte die Soundkulisse, die Shamir erzeugt, gleichermaßen spannend sein.

Shamir ist mit dem, was er verkörpert, nicht nur eine wichtige Persönlichkeit in der Musiklandschaft - ihre unverblümte anti-Haltung, die nicht auf Profit aus ist, sondern auf echte Veränderung und Repräsentation sucht ihresgleichen: „One of the main reasons why I like to share my art and my music with the world is, that there isn’t a lot of representation for people like me. So I had to take it upon myself and hopefully be that for the next generation“, sagt Shamir. „I want to show you, that you don’t have to be boxed in, even if you live in a world, where they want to box you in.“

mehr Musik:

Aktuell: