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Dear Esther

The Chinese Room

Strandspaziergang mit Folgen

Vor genau zehn Jahren erschien mit „Dear Esther“ der erste „Walking-Simulator“ der Games-Geschichte. Seine provokanten Ideen haben die Games-Welt nachhaltig verändert.

Von Rainer Sigl

Eine einsame Insel vor der schottischen Küste, ein Sonnenuntergang, Pianoklänge. Eine Stimme aus dem Off liest aus einem Brief, während ich meinen Spaziergang beginne.

Als das First-Person-Spiel „Dear Esther“ 2012 erscheint, ist es für einige SpielerInnen ein Skandal. Hier gibt es nichts zu tun, keine Gegner, keine Rätsel, keine Handlung, die mich irgendwohin schickt. Die einzige Aufgabe ist das Erleben einer Umgebung in all ihren Details. Ein „Walking-Simulator“ sei das, und gar kein richtiges Spiel, so wurde in Foren und Kommentarspalten gehöhnt, doch wie das so oft ist mit Spottnamen: Irgendwann verlieren sie ihren negativen Beigeschmack und setzen sich als Genrebegriffe durch. Vor allem dann, wenn sie etwas ganz Neues beschreiben.

Das Versprechen eines neuen Erzählens

Der britische Games-Forscher und Spielemacher Dan Pinchbeck hat „Dear Esther“ eigentlich schon 2008 veröffentlicht, als Mod für „Half-Life 2“. Die vier Jahre später erschienene Version, mit Unterstützung des Grafikers Robert Briscoe auf Hochglanz gebracht und aus Mitteln des Indie-Funds unterstützt, war und ist in ihrer Mischung aus Text, Grafik und vor allem Ausnahme-Soundtrack von Jessica Curry auch heute immer noch ein beeindruckendes interaktives Kunstwerk. Eines, das übrigens sofort sein Publikum fand: Nur knapp sechs Stunden nach Veröffentlichung war das Darlehen des Indie-Inkubators bereits hereingespielt.

„Dear Esther“, entwickelt und vertrieben von The Chinese Room, ist für PS4, Xbox One, Windows und Mac erhältlich - und immer noch absolut spielenswert.

Bei seinem Erscheinen habe ich gemeint, dass es das Versprechen eines neuen Erzählens im Videospiel insgesamt in sich tragen würde; zehn Jahre später hat sich das längst erfüllt. „Walking Simulator“, das ist kein Schimpfwort mehr, sondern ein Genrebegriff für viele Spiele, die statt der Spielmechanik das Erlebnis ins Zentrum stellen; nicht selten am Rand des Horrors oder mit Mystery-Elementen verwoben. Dass ein First-Person-Spiel ohne ins Bild ragenden Gewehrlauf kein echtes Spiel wäre, sagt 2022 niemand mehr.

Dear Esther

The Chinese Room

Esthers Erben

Das wahre Vermächtnis von „Dear Esther“ zeigt sich aber nicht nur in seinen Epigonen und Nachfolgern im Geiste, auch wenn darunter große Titel wie „Everybody’s Gone To The Rapture“ oder „What Remains of Edith Finch“ zu finden sind.

Stattdessen zeigt sich sein neues Erzählen auch in vielen großen Blockbuster-Spielen, die sich durch sein Beispiel von klassischen Erzählmustern emanzipieren konnten. Ohne „Dear Esther“ gäbe es keine der melancholischen Szenen in „The Last of Us“, in denen ganz ohne Cutscenes oder Dialog nur die Umgebung die Geschichte erzählt; und auch in unerwarteten Titeln wie „Assassin’s Creed Valhalla“ findet sich die DNA des Ambience Action Games, wie das Genre akademisch umgetauft wurde.

Für SpielerInnen ist der Name egal: „Dear Esther“ hat als erstes Spiel bewiesen, dass auch bei Games in stillen Momenten große Kraft liegt. Happy Birthday, dem Original-Spaziergangssimulator.

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