FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Cover Ausschnitt

Ullstein Verlag

buch

„Erzählende Affen“ - Die Geschichten von uns selbst

In einem erstaunlichen Monstrum erklären die Journalist*innen Samira El Ouassil und Friedemann Karig, wie wir die Welt mir einer archaischen Geschichte gestalten.

Von Boris Jordan

Das Buch der Bücher schreiben zu wollen ist in unserer post- postmodernen Diskursgesellschaft von vornherein als unmöglich punziert worden. Kaum jemand der nicht - inspiriert von den Philosophinnen der siebziger und achtziger Jahre - hochnäsig argumentiert, dass alles schon gesagt wurde, die Zeit der großen Erklärungen und Erzählungen mit der Moderne abgeschlossen sei und die Komplexität der modernen Welt sich nicht mehr ohne Weiteres zwischen den Buchdeckeln von Gott, Marx oder Freud finden lasse, geschweige denn zwischen zwei neu zu schaffenden Buchdeckeln Platz haben würde. Samira El Ouassil und Friedemann Karig würden dem vielleicht gar nicht widersprechen - versucht haben sie es trotzdem.

Buch Cover

Ullstein Verlag

Samira El Ouassil / Friedemann Karig: „Erzählende Affen“ - Mythen, Lügen, Utopien. Wie Geschichten unser Leben bestimmen, Ullstein Verlag

In gewissem Sinne haben hier zwei intellektuelle Journalist*Innen sich daran versucht, nichts weniger als die Meta- Geschichte zu erzählen, die Geschichte, die nicht nur alle Geschichten erklärt, sondern die aufzuzeigen versucht, dass alles vom Menschen Erfahrbare sich der Struktur der Erzählung unterordnet, vom „Mahabarata“ bis „Matrix“, von der „Odyssee“ bis „Star Wars“, vom Entwicklungsroman bis zum Instagram Selfie, Selbstbild und Naturverständnis, ja selbst Wirtschaft und ganz besonders Politik. Dazu mussten sich Samira El Ouassil und Friedemann Karig extrem versiert und flexibel in und zwischen den Orten bewegen, in denen sich die verschiedenen Erzählungen des Heute befinden. Sie mussten die wissenschaftlichen Grundlagen kennen und ihre praktischen Anwendungen, sie mussten Literatur, Mythologie, Philosophie, Religion, Ideologie, Kunst, Pop, Demokratie, Sexualität, Psychologie, Science Fiction, Rassismus, Naturwissenschaft oder Identität beleuchten. Sie mussten sich auf Walter Benjamin und Hans Blumenberg ebenso beziehen können, wie auf Hollywood oder HipHop, Twitter oder Trump.

Dass so ein Entwurf hinter seinem Anspruch zurück bleiben muss, ist nicht die Schuld der Autor*innen, der bloße Versuch einer Gesamtdeutung der „Erzählung von uns Selbst“ verlangt großen Respekt ab. Und er scheitert auch gar nicht.

Warum erzählen?

Im Anfang war nicht das Wort, sondern das Feuer. Das Lagerfeuer - und am Lagerfeuer wieder das Wort. Nur, dass das Wort allein, die Bezeichnung von Verbotenem, Gefährlichem und Erstrebenswerten, den mutmaßlichen kleinen Gruppen der neolithischen Revolution noch nicht genug gewesen sein durfte. Es ging in den frühen Gesellschaften nicht nur um die Benennung von Dingen, sondern auch um die Benennung von zeitlichen Abfolgen, kausalen Zusammenhängen und um die Übermittlung von Verhaltensweisen, moralischen Haltungen und Lösungsstrategien, die der Gruppe das Überleben angesichts einer feindlich empfundenen Natur ermöglichen sollte und erleichtern konnte. Dazu brauchte es das Wort in Formen, die zwei der größten geistigen Leistungen der sprachlichen Frühzeit darstellen: Die Metapher und die Erzählung.

Am Lagerfeuer erzählten sich die Menschen Geschichten. Geschichten von den Taten der Altvorderen, deren Konflikten und Lösungsstrategien, ihren Erfahrungen vom Zaudern und vom Überwinden, von Angst, Selbstlosigkeit und Mut, von Eigensinn und Kooperation - kurz, es ging um Komplexitäten, für die es eines adäquaten Rahmens bedurfte. Dieser Rahmen war die Erzählung, mit ihrem Spannungsbogen, ihren Identifikationsmöglichkeiten und den darin verpackten Anleitungen zu einem Überleben und einem erfolgreichen Dasein. In ihrer ursprünglichen Form haben diese Ur-Geschichten als Mythen überlebt - und in unserem Jahrhundert war nun Jemand gekommen, um festzustellen, dass eben diese Mythen nicht nur soziale Realitäten einzelner Gesellschaften wider spiegeln, sondern sich strukturell so stark ähneln, dass man annehmen musste, sie seien dem allgemein Menschlichen eingeschrieben. Dieser Jemand hieß Joseph Campbell.

Heldenreise

In seinem Buch „The Hero with a Thousand Faces“ hat der Amerikanische Mythenforscher festgestellt, dass sich eine bestimmte Erzählstruktur in sämtlichen frühschriftlichen Kulturen der Welt wiederholt: Ein Protagonist (archaisch meist kriegerische Männer) muss von zuhause aufbrechen, um einen Aufgabe zu bewältigen, die seine ursprüngliche Welt rettet oder verbessert, er muss Zweifel und Verführung (nicht selten der der Frau) widerstehen und an dieser Aufgabe wachsen, sich verändern, er muss einen Antagonisten überwinden und nach getaner Arbeit nach Hause zurückkehren, das sich seinetwegen ebenfalls verändert. Dieser „Monomythos“ (nach James Joyce) der „Heldenreise“ (Quest) begegnet uns durch alle Religionen und Kulturen der Welt, durch alle Stadien der Sophistikation, in Sagen und Märchen, Epen und Biografien, und später auch in den Exponaten der Medien und Kulturindustrien der modernen Industriegesellschaften.

Mikrogeschichten und Tiefengeschichten

Samira El Ouassil und Friedemann Karig sitzen auf einer Couch

Nils Schwarz

Hier kann man Samira El Ouassil und Friedeman Karig beim Erklären ihres Buches zuhören, in ihrem Podcast „Piratensender Powerplay“ beim Diskutieren über die Welt.

Heldenreise also. Doch damit nicht genug. Neben dem großen Monomythos beschreibt der erste Teil dieses Buchmonsters noch weitere Abspaltungen und Formen dieser Struktur. Aus den verschiedenen Einzelteilen und Motiven aus diesem ergaben sich Liebesgeschichten („boy meets Girl, Boy loses Girl, Boy regains girl“), Kriegsmythen und auch politische Strukturen, wie der Erzählung vom König, dessen Körper den Körper der Gemeinschaft repräsentiert und der sich aus dieser Erzählung die Legitimation für Gewalt und Hierarchie ableitet. Aus den vielen kleineren Geschichten speisen sich kollektive Selbsterzählungen der Völker und Nationen, die „deep stories“, etwa die der Vergeistigung und Pflichterfüllung der Deutschen (vor 1933), die der Meritokratie (Rags to riches) der Amerikaner, und - aus einer Art neurologischen und hormonellen Zwang der Menschen zu Geschichte und Choreografien - schließlich die Selbsterzählung von allen Menschen, die jede noch so gleichförmige Lebensführung der Sippen, Familien und Individuen als „Agens“, als Gestalterin des Schicksals, die in eine solche Erzählung pressen wollen - auch Dinge , die sich dieser Choreographie entziehen, wie Arbeitsteilung, Ackerbau und schließlich Naturwissenschaft.

Der Zwang zur Erzählform wurde zu allen Zeiten als Herrschaftsinstrument genutzt und missbraucht. Etwa der Mythos von der Möglichkeit des Einzelnen, es „zu schaffen“, wenn man sich nur brav anstrengt, der aller wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Realität widerspricht. Der Biblische von der Natur, die es zu bezwingen und auszubeuten gilt, damit wir uns ein für alle mal Wohlstand und Sicherheit erkaufen. Oder der vom konstruierten ewigen Antagonisten, dem bedrohlichen „Anderen“, den es zu besiegen oder gar zu vernichten gilt, woraus die Großerzählungen (die beiden Autor*innen nennen diese „Märchen für Erwachsene“) entstehen konnten aus denen sich Konkurrenzgesellschaft, Wettbewerb, und auch Misogynie, Rassismus und Antisemitismus ableiten ließen und immer noch ableiten.

Erzählungen von der Zukunft

Und jetzt, so schließen die AutorInnen im dritten, dem politischsten Teil des Buches, stehen wir an einem Ende der Erzählungen des kämpferischen Agens. Die Überwindungsgeschichte ist lebensbedrohlich geworden. Wenn wir so weiter machen, wie bisher, wird es mit uns ein baldiges, schlimmes Ende nehmen. Es gibt mit unseren gewohnten Lösungen den Wohlstand nicht für alle, er beruht auf Ausbeutung, die uns alle letztlich unserer Ressourcen beraubt. Die „Anderen“ sind nicht ein antagonistisches Objekt, das man nur zu besiegen braucht, sondern Teil der Gesellschaft, die Benachteiligten dieser antagonistischen Erzählung, die POC, die Minderheiten, vor allem die Frauen haben ein Recht auf Teilhabe, auf ihre eigene Erzählung, und fordern diese auch machtvoll ein.

Die Erfordernisse der Menschheit, die diese zum Überleben braucht sind Gemeinsamkeit, Nachhaltigkeit, Achtsamkeit, Kooperation, Gerechtigkeit, Verlangsamung, Vernunft, planvolles, besonnenes Agieren - davon hat Herkules wenig Ahnung. Die Zerschlagung des gordischen Knotens zerstört das ganze Seil, den Drachen brauchen wir noch, wir sollten ihn nicht töten. Die Demokratie und die darin notwendige diskursive Auseinandersetzung auf Augenhöhe, die Planung der Zukunft, all das lässt sich nicht so leicht in diese sexy Geschichten einpassen.

Doch auch all das wird sich wieder in Geschichten wiederfinden müssen, diese zu erfinden und neu zu definieren, ihre Werte und Themen zu erweitern und zu überwinden, das fordert dieses Buch von uns allen ein. Selbstverständlich wird es mehr brauchen, als nur die „Narrative“ zu ändern, doch das ist – so erklärt das Buch selten wortreich – eine der schwierigsten Aufgaben, die vor uns liegen.

mehr Buch:

Aktuell: