FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Flüchtende Frau aus der Urkaine

APA/AFP/Daniel MIHAILESCU

mit akzent

Krieg in der Ukraine: Wie eine Geschichte aus längst vergangenen Zeiten

Mein Uropa wurde im Jahr 1900 in der heutigen Ukraine geboren. Er lebte dort in einer Großfamilie mit vielen Kindern bis er 18 war.

Eine Kolumne von Todor Ovtcharov

In dem Kaff in dem mein Uropa lebte, bekamen sie kaum mit, dass in St. Petersburg die Revolution ausgerufen wurde und dass die Roten an die Macht gekommen sind. Hier herrschten immer noch die alten Regeln.

Als er volljährig wurde, wurde mein Uropa in die Armee einberufen. Schnell wurde er in den Krieg geschickt. Bei den Weißen, die gegen die Roten kämpften. Er wurde Adjutant eines Offiziers. Da mein Uropa sehr fleißig war, hatte dieser Offizier die saubersten Stiefel in der ganzen weißen Armee. Als die Roten im Vormarsch waren, bestieg dieser Offizier, gemeinsam mit seinem Adjutanten, ein Schiff und flüchtete aus der Ukraine. Mein Uropa sah, wie Odessa langsam im Nebel verschwand.

FM4 Podcast Mit Akzent (Mitakzentpodcast)

Radio FM4

Mit Akzent gibt es jede Woche auch als Podcast.

Nach einer Nacht erreichten sie Varna in Bulgarien. Der Offizier verkaufte den Schmuck seiner Familie und schwärmte die ganze Zeit von Rache und Sieg. Mein Opa hingegen fand einen Job als Gehilfe in einer Molkerei.

Er fuhr in einer Pferdekutsche in den Dörfern rund um Varna herum und kaufte Milch, die er in Joghurt und Käse verwandelte. Genau diesen berühmte bulgarische Joghurt, den es nur in Bulgarien gibt, stellt man mit einer Bakterie her, die man bacillicus bulgaricus nennt.

Der Offizier kehrte irgendwann nach Odessa zurück, er versprach meinem Opa Sieg und Rache. Doch mein Opa wurde mit dem bacillicus bulgaricus verseucht. Er hatte zum ersten Mal in seinem Leben ein eigenes Bett. Er entschied sich, nicht nach Odessa zurückzukehren, er hatte seine neue Heimat gefunden. Er heiratete, hatte Kinder und lebte weitere siebzig Jahre. Er fuhr nie wieder in die Ukraine, um seinen Geburtsort wieder zu sehen.

Die Geschichte meines Uropas hörte sich bis vor wenigen Tagen wie ein Märchen aus längst vergangenen Zeiten an. Heute sehen wir riesige Menschenmassen, die die Ukraine verlassen. Der Krieg verfolgt sie. Es sind meist gewöhnliche Menschen, so wie mein Uropa. Geben wir ihnen die Nähe und Geborgenheit, die sie brauchen!

Ein Jahrhundert ist seitdem vergangenen, aber die Menschlichkeit existiert weiter. Und sie wird den Wahnsinn von Generälen und Politikern immer besiegen.

Aktuell: