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"Nullerjahre" Hendrik Bolz

Kiepenheuer & Witsch

Eine Jugend in blühenden Landschaften

Hendrik Bolz vom Berliner Duo Zugezogen Maskulin schreibt in „Nullerjahre“ über seine Jugend in Ostdeutschland: Baseballschläger-Jahre in der Plattenbau-Siedlung in Stralsund. Springerstiefel, Aggro-Machtspiele, Drogen, Gymnasium, Gewalt. Panik, Panik, Panik.

Von Susi Ondrušová

Nur weil jemand Rap-Texte schreiben kann, also in vier von Beats unterfütterten Strophen einen Einblick in eine Gefühlslage liefern kann, heißt das noch lange nicht, dass jemand auch den langen Atem hat, das auf 300 Seiten Länge zu schaffen. Spoiler: Hendrik Bolz kann. In seinem ersten Buch beschäftigt er sich mit seiner eigenen Biografie und seiner Jugend in der Nachwendezeit in Ostdeutschland.

„Mit der Geschichte gehe ich schon ewig schwanger eigentlich,“ sagt Testo aka Hendrik Bolz. 2015 veröffentlichen Zugezogen Maskulin den Song „Plattenbau O.S.T.“, der Soundtrack einer Jugend, wie sie Testo selbst erlebt hat. „Dieses Gefühl, als Truppe rumhängen und nichts zu tun haben und nur Scheiße zu bauen und nirgendwo richtig aufgenommen zu sein, da haben sich viele drin wiedergefunden,“ erzählt der Rapper im ersten FM4-Interview anlässlich des Albumreleases „Alles brennt“. 2015, das war das Jahr der „Zerreißprobe für Europa“.

Auf „Refugees Welcome“ folgte Schwarz-Blau-II, AfD und auch #wirsindmehr. Zugezogen Maskulin treten 2019 auf dem von Kraftklub 2015 in Chemnitz initiierten „Festival für Demokratie“ auf, im gleichen Jahr sind sie auch auf die Bühne vor das Brandenburger Tor eingeladen. Der Anlass: 30 Jahre Mauerfall. Hendrik Bolz merkt damals: „Irgendwie fehlt hier meine Perspektive. Ein Mensch, der in der DDR geboren ist, aber nichts mehr davon erlebt hat, der so in dieses Nachwende-Chaos hineingeboren ist. Wie ist der eigentlich? Wie wächst er auf? Womit ist er geprägt? Dann dachte ich so Okay! schreib ich den Text.

Sein Artikel in „Jugend im Osten“, in dem er davon schreibt, dass ihn „Sieg-Heil-Rufe in den Schlaf wiegten“ und die daraus entstandene Diskussion über #Baseballschlägerjahre wecken das Interesse von Verlagen. In Februar erscheint im Kiepenheuer&Witsch Verlag „Nullerjahre – Eine Jugend in blühenden Landschaften“ Die beiden Stralsund-Termine der Lese-Tour sind schon ausverkauft. Stralsund, das ist der Ort, an dem Hendrik Bolz aufgewachsen ist, hier hat er seine Nullerjahre verbracht.

„Nicht Friedrichshain oder Prenzlauer Berg, nicht Potsdam oder Connewitz. Nein, ein anderer Osten, ganz am Rande von Deutschland, wo man zu DDR-Zeiten nicht mal mehr Westfernsehen empfangen konnte, das Tal der Ahnungslosen in Vorpommern.“

"Nullerjahre" Hendrik Bolz

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Bolz beschreibt in seinem Buch seine Heimatstadt auch als einen Ort „mit Scheißegeruch von den umliegenden Feldern, pastellgepinselten Plattenbauten, Bomberjacken, Möwengeschrei, Hafenglocken, Sprottenköpfen, Donnergrollen, Sturmflut, Filmriss.“ Und wer sich in die damalige Zeit zurückversetzen will: Es herrschte „Chaos der kollidierenden System“, die Bolz mit folgenden sich zur Apokalypse hochschaukelnden Zuständen zusammenfasst: „...ausgepackte Ellbogen, Vereinzelung, Drogenschwemme, Diktaturprägungen, Politikverdrossenheit, Resignation, Geburtenknick, Gangsterrap, ausblutende Landstriche, Massenarbeitslosigkeit, Abwertung, Abstieg, Scham, Schuld, Schweigen, Schweigen, Schweigen.“

Bolz arbeitet in „Nullerjahre“ viel mit Verknappung und Wiederholungen, streut hier und da Songzitate ein. Er verschriftlicht Laute des Rausches und der Panik. Beschönigt wird nicht viel, im Gegenteil, schon im Intro stellt er klar, die Reise, auf die er die Leser*innen mitnimmt, von einem Teil handelt, „von dem ich irgendwann nicht mehr sprechen wollte, und nachdem niemand je ernsthaft gefragt hat, ein anderer Hendrik, ein dunkler Fleck, verscharrt, kaschiert, überschminkt.“

Es gibt Rückblenden in die Kindergarten-Tage, als ihm für den Lebensweg mitgegeben wurde, dass Jungs nicht weinen, und in die Zeit am Gymnasium, wo die Lektionen im Umgang miteinander so gar nicht zur Welt passten, wie er sie draußen vorfand: „Mein aktuell ramponiertes Spiegelbild legte davon klar Zeugnis ab. „Der Klügere gibt nach“ und bekommt dann das Gesicht zerhämmert, na super, da konnte ich mich doch direkt bei meinen Pädagogen und ihrer Weltfremdheit bedanken.“

Im Buch erzählt Hendrik Bolz von Pavel, Sebastian, Nadja, Caro, Schubert oder Jonas, mit denen er in den Plattenbauten von Kieper West in Stralsund abhängt. Alkohol entdecken, Kiffen, Feiern, sich stark fühlen und stark zeigen. Und er schreibt auch über Opfer der Mobbing-Attacken seiner Clique und die Prügelattacken am Spielplatz.

„Hier auf diesem Planeten regiert keine Freundschaft, kein Frieden und Gott schon gar nicht, alles Märchen, alles Gelaber, nur Gewalt hält die Welt zusammen.“

Der Soundtrack seiner Jugend sind die Böhsen Onkelz, die dann von Aggro-Berlin-Rappern abgelöst werden. Was das Buch aber besonders lesenswert macht, ist nicht nur die Chronologie der Erfahrungen, die beim jungen Hendrik Bolz zu einem toxischen Männlichkeitsbild führen, sondern die sachlichen Passagen, in denen er über die Geschichte Ost-West-Deutschlands schreibt. Fabrik-Abbau in Stralsund, Massenarbeitslosigkeit in Mecklenburg-Vorpommern, Ein-Euro-Jobs und Agenda-2000, gefolgt von Reflexionen über die neuen Rechten („Beleidigt, bedroht, bespuckt, gejagt, geschlagen, getreten, da reichten schon rote Schuhe.“) und die Darstellung der „Unterschicht“ in TV-Comedyshows:

„Hier wurden die Karikaturen vom minderbemittelten, kriminellen Ausländer und vom asozialen, arbeitslosen, rechtsradikalen Ostdeutschen geformt und gepflegt und wenn man Gruppen erst mal so stigmatisiert hat, dann geschieht ihnen ihr Unglück doch ganz recht, dann braucht man sich da gar nicht weiter drum zu kümmern.“

"Nullerjahre" Hendrik Bolz

Kiepenheuer & Witsch

Nullerjahre. Jugend in blühenden Landschaften von Hendrik Bolz ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.

Im FM4 Interview erzählt Hendrik Bolz, dass die Leser*innen ihm über die Schulter schauen können: die Fakten und historischen Zusammenhänge in den Kontext zu setzen, war bei der Arbeit am Buch schon aufwendiger als „nur“ seine eigenen Kindheits-Erinnerungen aufzuschreiben: „Ich habe damals davon überhaupt nichts begriffen und gewusst. Es hat mich nicht interessiert. Für mich war nur wichtig cool sein und dass hier irgendwie noch ein anderer Staat irgendwie existiert hat und was war das eigentlich für ein Staat? Und warum tragen denn hier die großen Jungs so Bomberjacke und Springerstiefel und warum sind irgendwie alle arbeitslos? Das war alles für mich normal. Als Kind denkt man ja, das was mich umgibt, das war schon immer so und wird immer so sein. Und dass ich in so einer Ausnahmesituation hineingeboren wurde, wo ein Staat sich verabschiedet und ein neuer erst sich so etabliert. Man schaut eigentlich bei der Lektüre mir über die Schulter, wie ich meine eigene Geschichte einordne in so einen historischen Kontext.“

Vor allem die Drogen-Kapitel in der zweiten Hälfte des Buches sind hart und hoffnungslos. „Platsch, platsch, platsch, ausgestiegen und verschollen, hinterm zerkratzten Acrylglas, es ging mich alles nichts mehr an.“ Bolz sagt im Interview, es ging um ein lustvolles Drogennehmen, es war eigentlich ein „sich wegmachen“. Und ein sich mit Alkohol den Mut antrinken um „so stark zu sein“ wie die Person in den Lieblings-Rap-Songs.

„Nullerjahre“ ist emotional so einvernehmend und aufwühlend („Das ist wirklich so passiert?“), dass man zwischendurch gar vergisst, dass das Buch eigentlich eine Art „happy end“ hat.

Hendrik Bolz ist heute gesund, erwachsen und fähig zur Selbstreflexion. Er schämt sich nicht (mehr) für seine Gefühle. Seine Vergangenheit ist Teil seiner Zukunft als Familienmensch und Freund, als Rapper und Künstler. Er wünscht sich, dass der öffentliche Diskurs über die Nachwendezeit die Ostdeutsche-Perspektive miteinschließt. Denn was bedeuten Worte wie Herkunft und Heimat und Identität? „Ich finde das ist ein wichtiger Punkt, dass verschiedene Menschen aus verschiedenen Perspektiven und mit verschiedenen Identitäten sich melden und sich auch zu dieser Zeit im Osten melden und dass man eben checkt, dass die Identität vielschichtig ist und dass es viele kleine Teil-Identitäten gibt und viele Menschen, die Unterschiedliches erlebt haben. Und dass man das irgendwann zusammenbaut zu einem bunten Bild. Und ich habe das Gefühl, dass das lange auch ein Problem war im ostdeutschen Diskurs, dass die Leute sich da gegenseitig ihre Erfahrungen ausreden wollen, auch was die DDR angeht.“

Während wir alle um den Teenager-Hendrik wohl einen großen Bogen gemacht hätten, ist es heute natürlich anders. Danke für das Buch und das Interview aber eine Frage muss noch sein. In Zeiten der leichten Überforderung, wo man am Weg zur Ukraine-Demo an einer Schwurblerdemo mit Russland-Flagge und Freiheit-Banner vorbeimarschiert, wie geht sich das mit dem #lasstunsreden überhaupt noch aus? Wie hat sich sein Blick geändert auf Menschen die man nicht mehr wieder erkennt und Motive, die man überhaupt nicht verstehen (oder verarbeiten) kann?

„Es ist schwierig und es läuft nicht mit einfach nur Tür vor der Nase zuschlagen und sagen „Ja, du bist scheiße und änder dich!“ Weil die Person ändert sich nicht. Ich glaube in den meisten Fällen sagt man sich „Ja wenn ich jetzt für dich Scheiße bin, dann zeige ich dir mal Scheiße!“ Also dass man eigentlich noch so Trotz hervorruft. Das ist schwierig.“ Bolz spricht nicht über Corona oder Krieg sondern über die „verführerischen rechten Strukturen“, er erinnert sich an Jugendarbeit-Initiativen aus den 90ern und meint: „Wenn ich so zurückdenke, dann merke ich, dass Personen, die sich mir irgendwie auf Augenhöhe genähert haben, da hab ich immer ganz gute Erfahrungen gemacht und dann auch aufgemacht. Wenn ich gemerkt habe, eine Person diskutiert jetzt wirklich mit mir, ohne sich bei mir einzuschleimen. Ohne mir zu sagen „Ja Hendrik du bist scheiße, du bist doof und mach so wie ich sage!“ aber auch ohne „Ja oh lieber Hendrik, sei mal bitte nett zu mir“ sondern, dass man eine selbstbewusste Position einnimmt. Ich glaube, das ist gut und wichtig.“

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