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A Ukrainian flag flies beside a Union flag above the Home Office building in central London on February 26, 2022, in reaction to Russia's invasion of Ukraine

Tolga Akmen / AFP

robert rotifer

Der Ukraine-Krieg und das Geschäftsmodell London

Großbritannien zeigt sich ebenso zögerlich bei der Bekämpfung der Geldwäsche im berüchtigten Londoner Laundromat wie bei der Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge. Die Geschichte eines moralischen Bankrotts nach Jahrzehnten saftiger Geschäfte.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Reden wir doch endlich einmal über uns selber, kommt ja sonst nie vor unter uns Westmenschen. Ich weiß nicht, wie euer Wochenende war, ich jedenfalls verbrachte meinen Samstag bei so einem ganztägigen Indie-Festival in Leicester (weil ich in einer der Bands spielte), unter – wie in jener Szene üblich – politisch ziemlich soliden Leuten, und alle hatten eine gute Zeit.

Das allein war natürlich nur möglich, weil wir alle uns an die unausgesprochene Vereinbarung hielten, nicht DARÜBER zu sprechen (so ist das immer mit dem Unausgesprochenen). Sonst hätte uns nämlich entweder zu sehr gegraust vor den vielen augenzwinkernden Halb-Ironien, die zu einem Indie-Festival gehören, oder wir wären zu deprimiert gewesen, um uns genre-kompatibel unaufgeregt zu amüsieren.

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Ein paar Tage davor hatte ich auf FB die Ankündigung eines Singer-Songwriters für sein Konzert in Wien gelesen, in der jener dazu aufrief, gemeinsam „für den Frieden“ zu singen. In einem der Kommentare darauf folgte der unvermeidliche Konter (sinngemäß, ich find die Konversation jetzt nicht, vielleicht gelöscht): „Wie könnt ihr ans Singen denken, während im Krieg die Leute sterben?“

Naturgemäß hatten beide es mit ihren konträren Positionen nur gut gemeint, aber ihr Zusammenstoß erklärt auch, warum das still vereinbarte Nichtaussprechen – so wie beim Indie-Festival in Leicester – nicht unbedingt „zu Unrecht schweigen“ bedeuten muss, sondern vielmehr eine sehr verständliche Strategie sein kann, dem Eindruck der selbstdarstellerischen Wichtigtuerei vorzubeugen – siehe auch die selbstironische Präambel dieser Kolumne.

Wünsche allerdings viel Glück dabei, dieses Argument als Erklärung dafür vorzubringen, warum manche Künstler*innen etwa zu Zeiten der Nazi-Gräuel so weiter taten als wär nichts gewesen (und natürlich werden sich auch da wieder welche finden, die diesen Vergleich nicht dulden, aber seid ehrlich, die Unterschiede gegeneinander aufzurechnen geht auch nie gut aus). Alles, was ich damit sagen will: Der Spagat zwischen der Sprachlosigkeit und der rein performativen, bisweilen narzisstischen Solidaritätsbekundung ist ein wirklich schwieriger, und das können wir uns durchaus eingestehen.

An street sign defaced with fake blood is pictured opposite the Russian Embassy in London, on February 26, 2022 during a protest rally following Russia's invasion of Ukraine

Tolga Akmen / AFP

Das spezifische Problem meiner britischen Wahlheimat ist, dass dank der hiesigen Umgangsformen seitens jener unter uns, die scheinbar selbst keine Entscheidungsmacht haben, die Zurückhaltung gewissermaßen zur Default-Betriebseinstellung gehört und man dabei allzu leicht auf die Wahrnehmung der eigenen Verantwortung vergisst.

Denn was Großbritannien sich in seinem Umgang mit der russischen Invasion in die Ukraine leistet, ist eigentlich vollkommen unerträglich.

Der britische Staat übt sich seit Ausbruch dieser Krise in Wortradikalität gepaart mit beschämender Untätigkeit. Der Guardian hat letzte Woche in einem Artikel zusammenfassend recht gut erklärt, wo die Gründe für diese Dissonanz liegen. Sie lassen sich als eine Mischung aus offensichtlicher Korruption (vor allem an die konservative Partei als auch an viele derer Parlamentarier*innen flossen indirekt Millionen an Spenden aus russischen Quellen) und die für die Regierung Johnson charakteristische Nachlässigkeit zusammenfassen.

Ein Subtext davon ist allerdings auch, dass jede ernsthafte Auseinandersetzung mit dem sogenannten Londoner Laundromat, also der in der britischen Metropole seit Jahrzehnten geduldeten, ja willkommen geheißenen Wäsche von Kleptokratengeld, eine ernsthafte Infragestellung des dubiosen eigenen Wirtschaftsmodells bedingen würde, das seinerseits das System Putin eifrig mitgefüttert hat.

Der in diesem Tweet von der Aktivist*innengruppe Led By Donkeys verlinkte Film erklärt in Kürze, wie dieses System funktioniert:

Einer der Gründe, warum das Vereinigte Königreich sich mit Sanktionen oder Beschlagnahmungen von bzw. gegen russisches Kleptokratenvermögen so schwer tut, ist, dass so vieles davon nicht im Namen der Kleptokraten, sondern derer vielen Scheinfirmen in Steueroasen britischer Überseeterritorien angelegt wurde. Die ungestörte Aufrechterhaltung dieses schmutzigen Geschäfts war schließlich auch eines der großen unterschwelligen Motive für den – richtig geraten – Brexit.

Es braucht gar keine sinistren weltpolitischen Motive (wie etwa Kompliz*innenschaft in der „Destabilisierung des Westens“), um dieses Verhalten zu erklären. Meist stehen wohl ganz banal (oft persönliche) finanzielle Interessen dahinter.

Das war schon 2003 klar, als ich hier diese Kolumne zur Übernahme des Chelsea FC durch den damals noch unbekannten Roman Abramovich schrieb. 15 Jahre später griff ich dasselbe Thema auf, als ich an einer für Journalist*innen veranstalteten Bus-Tour durch das London der Kleptokraten teilnahm.

Jetzt, wo derselbe Abramovich seinen Fußballverein und vieles, was ihm sonst noch so in London gehört, als Vorbeuge gegen kommende Sanktionen abstößt, kommt diese moralische Implikation der britischen Gesellschaft unübersehbar offen zum Vorschein. Besonders schockierend am Samstag, als Chelsea-Fans vor dem Premier League-Match gegen Burnley während einer Minute Solidaritäts-Applaus für die Ukraine im Chor den Namen des russischen Eigentümers riefen.

Der Link hier gerade eben geht übrigens zur Londoner Gratis-Tageszeitung Evening Standard, die ihrerseits dem Anglo-russischen Milliardär Evgeny Lebedev gehört, der erst kürzlich von Boris Johnson unter ziemlich zweifelhaften Umständen ins House of Lords gehievt wurde.

A Ukrainian flag flies from the roof of a Whitehall building as a protest rally takes place in central London on February 26, 2022 following Russia's invasion of Ukraine

Tolga Akmen / AFP

Ukrainische Flagge auf dem Whitehall Building, 26. Februar 2022.

Wie gesagt, es gibt kein Entkommen vor diesen tiefen Verstrickungen, und die Hoffnung besteht, dass davon am Ende auch kein Populismus mehr ablenken können wird. Ein mögliches frühes Zeichen dafür ist das offensichtlich verfehlte Kalkül der britischen Regierung, unter Voraussetzung eines alles andere übertreffenden xenophoben Konsens brutale Unbarmherzigkeit gegenüber Flüchtlingen aus der Ukraine zu demonstrieren (so wie man das auch sonst mit Flüchtlingen aus anderen Kriegs- und Krisenregionen tut).

Hier ein Text des Experten Colin Yeo zu der faktischen Unmöglichkeit, nach heutigem – und schon überhaupt nach geplantem künftigem – Recht Asyl in Großbritannien zu finden.

Demonstrators hold placards at a protest rally outside of the Russian Embassy in London, on February 26, 2022 following Russia's invasion of Ukraine.

Tolga Akmen / AFP

Wenn einmal schon ein ehemaliger Fußballer wie Gary Neville (siehe Tweet unten) den moralischen Bankrott dieser Politik verdammt, sollte selbst einer wie Johnson begreifen, dass er auf dem falschen Dampfer ist. Eigentlich.

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