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Erich Moechel

Der Internetverkehr Russlands wird umgeroutet

Mit Lumen und Cogent verlassen der führende Transit-Carrier und die Nummer drei gerade den russischen Markt. Das passiert offenbar nicht ganz freiwillig und vor allem nicht so schnell wie angesagt.

Von Erich Moechel

Nach dem Mediensektor und der Börse treffen die Sanktionen des Westens die russische IT-Branche nun mit voller Wucht. Mit Cogent und Lumen sind zwei der führenden fünf internationalen Internet-Carrier gerade dabei, ihre Großkunden in Russland nacheinander abzutrennen. Marktführer Rostelecom, alle Mobilfunkfirmen und der Internetkonzern Yandex verlieren ihre stärksten Anbindungen an die Welt.

Update 2022 03 14

Einige zu stark verkürzte Darstellungen bezüglich der Bandbreiten und Routen wurden ergänzt bzw. korrigiert.

Am Freitag gab die Londoner Internet-Exchange bekannt, dass Datenverkehr von Rostelecom nicht mehr geroutet wird. All das ist ein Novum in der Geschichte des Internets, die Stellungnahmen der beiden Carrier aber werfen mehr Fragen auf, als sie beantworten.

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Hurricane Electric

Über den Knoten AS 12389 - „AS“ steht für „Autonomes System“ - werden offenbar alle Verbindungen von Rostelecom ins westliche Ausland geroutet. Die drei leistungsstärksten Anbindungen von Rostelecom sind Level3 (AS3356), eine Tochterfirma von Lumen, sowie Cogent (AS 174) und die schwedische Telia (AS 1299). Weitere, aber schwächere Anbindungen bestehen zu Sparkle (Telecom Italia) und Orange (Frankreich). Dieser Graph (IPv4) stammt von Donnerstagabend, Abschaltungen sind also noch keine zu erkennen. Die Graphen werden vom Carrier Hurricane Electric automatisch aus einer Datenbank mit den jeweils aktuellen internationalen Routing Tables generiert. Dazu die Erklärung von Lumen (Level3), um die es im folgenden Absatz geht.

„Die paar russischen Businesskunden“

Aktuell dazu in ORF.at

Der Krieg in der Ukraine bedroht mittlerweile die durch die Pandemie ohnehin strapazierten globalen Lieferketten.

Das Wording im Statement von Lumen zum Exodus aus Russland wurde seit der Erstversion (7. März) zwar etwas abgeändert, diese Aussage war aber stets ganz oben drin. Weil Lumen seine „limitierten Operationen in Russland“ beende, werde man alle Services für die „extrem kleine Zahl von Businesskunden mit sofortiger Wirkung“ einstellen. Da Lumen kein lokaler Internetanbieter sei, habe man auch keine privaten Kunden in Russland. Lumens Account-Teams hätten jedoch schon angefangen, „die paar russischen Businesskunden zu kontaktieren“, heißt es auf der Website von Lumen.

Diese „paar Kunden“ sind zum Beispiel Rostelecom, MTS Telecom, Transtelecom, MTS Telcom, VEON und Megafon, das sind die größten fünf Anbieter von Internetzugängen in Russland, die nun neue Carriers zur Anbindung an die Welt finden müssen. Durch diesen Ausstieg Lumens, der Nummer eins unter den Transitprovidern in Russland, wird fast der gesamte Internetverkehr des Landes Richtung USA beeinträchtigt. Rosteclecom könnte zwar versuchen, zusätzliche Kapazitäten an Internet-Exchanges etwa in Amsterdam oder London zu buchen. Wie auch die Erklärung der Londoner Inter-Exchange zeigt, stehen die Chancen dafür unter dem EU-Embargo gegen Russland äußerst schlecht.

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Hurricane Electric

Wie Rostelecom hat auch MTS Telecom einen vorgeschobenen Knoten, über den alle Datenströme in dem Westen geroutet werden. Das Gros der Routen von AS8359 (MTS) geht über AS3356 von Lumen an alle großen US-Netzbetreiber, AS 1299 von Telia routet den Verkehr aus Russland nach Europa. MTS verfügt außerdem auch über eine Anbindung an das Netz von Hurricane Electric. (siehe unten) Die Mitteilung von Cogent zur Einstellung seiner Dienste in Russland erfolgte nicht öffentlich, sondern in E-Mails an die russischen Kunden. (siehe unten)

„Ports und IP-Adressen unmittelbar zurückgefordert“

Seine überproportionale Dominanz in der Informationssphäre von Netz, TV und Radio hatte Moskau binnen der ersten drei Kriegstage schon verloren.

Auf der Website von Cogent gibt es zum Rückzug aus Russland überhaupt keine Erklärung, wohl aber eine E-Mail, die an die Kunden in Russland ging, Auszüge daraus hat die Cloud-Consultingfirma Kentik veröffentlicht. Am 3. März waren die Kunden von Cogent in Russland darüber informiert worden, dass alle Services nach 24 Stunden [!], nämlich am 4. März um 17 Uhr beendet würden. Die Telekoms VEON (früher Vimpelcom, AS3216) und TransTelecom (TTK, AS20485) wurden tatsächlich am 4. März abgehängt und zwar schon fünf Minuten nach der Deadline. Rostelecom (AS12389) und der Mobilfunker Megafon (AS31133) waren zum Redaktionsschluss dieses Artikels hingegen immer noch angebunden.

Wie die Erklärung Lumens ist auch diese E-Mail von Cogent in einer Tonart absoluter Urgenz gehalten. „Alle von Cogent zur Verfügung gestellten Ports und IP-Adressen werden unmittelbar nach dem Datum der Terminierung zurückgefordert“, heißt es da und dass Equipment von Kollokationskunden abgehängt und zum Abholen bereit gestellt würde. Gemeint sind damit Router und Server, die von Kunden im Cogent-Datencentern aufgestellt worden sind. Dass VEON und TransTelecom so blitzartig abgehängt wurden, sieht nach einem Ultimatum aus, das weder Cogent noch Lumen selbst ausgesprochen haben, sondern eine ganz andere Instanz. Darauf weisen auch die Begründungen der beiden Carrier hin.

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Kentik

In diesen Chart, der aus der Datenbank der Cloud-Consultingfirma Kentik stammt, ist die Abschaltung von VEON und TransTelecom bereits eingeflossen. Cogent fiel auf dem russischen Markt dadurch um einen Platz zurück, der führende Transitprovider in Russland ist nach wie vor Lumen.

„Erhöhtes Risiko von Staatszugriffen“

Seit der Gleichschaltung der wenigen verbliebenen freien Medien in Russland strahlen BBC, ORF und Polskie Radio wieder Kurzwellenprogramme für die Ukraine aus, die auch in Russland zu empfangen sind.

Als Begründung für diese radikalen Maßnahmen führt Cogent die Sanktionen an, nennt aber auch „eine zunehmend unsichere Sicherheitslage“, ohne diese Bedrohung für die Sicherheit der Firma näher zu spezifizieren. Auch Lumen beruft sich auf zunehmende Sicherheitsrisiken. Das Umfeld werde zunehmend unsicherer. Weiters, heißt es dann deutlicher, bestehe „ein erhöhtes Risiko von Staatszugriffen“. Am Freitag ist bekannt geworden, dass Manager der Moskauer Niederlassungen von Apple und Google mit Verhaftung bedroht worden sind, sollten sie eine populäre russische Voting-App nicht sofort aus ihren App-Stores nehmen.

Das muss vor dem Abzug der beiden Firmen aus Moskau stattgefunden haben. Es ist also nicht so, dass alle US-Unternehmen das Land aus eigenem Antrieb verlassen haben. Das 24-Stunden-Ultimatum zur Abtrennung scheint in erster Linie die Provider VEON und TransTelecom betroffen zu haben. Diese beiden ansonsten auf dem russischen Markt durchwegs unterschiedlich aufgestellten Carrier sollten also irgendetwas gemeinsam haben, das den Zorn von Putins Bürokraten erregt hat.

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Hurricane Electric

Am Samstag waren die Anbindungen von Rostelecom an die Netze von Cogent (AS 174) und Lumen alias Level3 (AS 3356) immer noch intakt. Allerdings flossen seitdem auch massive Datenströme zu Hurricane Electric (AS 6939), von diesem US-Carrier stammt auch der obige Graph. Wie es aussieht, gingen die meisten Routen in Richtung USA bisher über die Netze von Lumen und Cogent. Ebenso gibt es eine Anbindung an Hurricane Electric, dieser Carrier ist dafür bekannt, über besonders viele Peering-Verträge zu verfügen. Das sind Abkommen für pauschale wechselweise Datenweiterleitungen zweier Carrier auf gleicher Basis, während Transitprovider Bandbreiten und Volumen verrechnen, der andere Carrier also nicht Partner sondern Kunde ist. Durch diese hohe Zahl an Peering-Verträgen werden bei Hurricane Electric mit leichter Verzögerung besonders viele Routen anderer Carrier sichtbar. Ganz oben links ist mit AS 4809 übrigens ein weiterer Knoten aufgetaucht, dieser Knoten gehört zum Netz von China Telecom.

Kein Fazit, sondern Follow-up

Wenn am Ende eines Artikels die wichtigste Frage offen ist, nämlich die nach dem „Warum“, ist natürlich ein Follow-up angesagt.

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