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Portrait der Grazer Autorin Marie Gamillscheg

© Jens Oellermann

Marie Gamillscheg „Aufruhr der Meerestiere“

„Aufruhr der Meerestiere“ von Marie Gamillscheg ist ein vielschichtiger Roman über Familien- und Gesellschaftssysteme und dem Menschen als von der Natur abgekoppeltes Wesen. Es ist auch eine starke Erzählung über die behutsame und doch schmerzhafte Befreiung einer jungen Frau von Rollenzwängen und prägenden Vergangenheitserlebnissen.

von Andreas Gstettner-Brugger

Luises Gefühlswelt gleicht einer Insel. Passenderweise ist sie Meeresbiologin: eine junge, unabhängige Frau die in ihrem wissenschaftlichen Leben erfolgreich ist. Genauer bei der Erforschung der Meerwalnuss, einer im Dunklen leuchtenden Rippenqualle, ein „berüchtigtes, invasives marines Lebewesen“, das, wenn es eingeschleppt wird, das Ökosystem durcheinanderbringt.

Buchcover "Aufruhr der Meerestiere" Marie Gamillscheg

Luchterhand Verlag

Der zweite Roman „Aufruhr der Meerestiere“ von Marie Gamillscheg ist im Luchterhand Verlag erschienen.

Im Verlauf ihrer Forschung hat sich Luise vom außeruniversitären Leben immer mehr abgeschottet. Sie strandet quasi in ihrem eignen Innenleben. Sie hungert ihren Körper aus, hat mit starker Neurodermitis zu kämpfen und geht keine festen Beziehungen ein. Sie reist von Kongress zu Kongress, verbringt längere Zeit in verschiedenen Ländern, kommt aber immer wieder unerfüllt in ihren Alltag nach Kiel zurück.

Ein Sprudeln von der Strömungspumpe. Die Quallenpolypen waren im Wasser kaum zu erkennen. Es sah so aus, als ob es nur das Lampenlicht war, das dem Wasser Kanten schlug. Luise schaltete das Licht aus, verließ das Institut, auch draußen schon Nacht, vom Dunkel des Kellers ins Dunkel der Welt.

Doch als Luise für ein Projekt für einen renommierten Tierpark nach Graz reisen soll, beginnt ihre abgekapselte Welt Risse zu bekommen. Denn in den zwei Wochen in ihrer Heimatstadt wird sie mit ihrer Familiengeschichte und der entfremdeten Beziehung zu ihrem Vater konfrontiert. Immer mehr wird ihre Insel von Wellen der Erinnerung geflutet. Ganz langsam beginnt Luise, mit dem Leben wieder Kontakt aufzunehmen.

Von Familien- und Ökosystemen

Marie Gamillscheg ist ganz nah an ihrer Protagonistin. Sie schafft es, durch klare Sprache und eindrückliche Bilder das Innenleben von Luise spürbar zu machen, ihre innere Isolation, die sich im Verhalten mit ihrer Umwelt spiegelt. Die durch Erinnerungen an ihre Kindheit aufflackernden Glaubenssätze machen immer Luises Prägungen deutlich. Ihr wird mehr und mehr bewusst, dass ihre Überzeugungen eigentlich die Sätze des beziehungsunfähigen Vaters und der nach Freiheit strebenden Mutter sind.

Sie lernte zwei Dinge über das Frausein. Vom Vater: Wer einen kurzen Rock anzieht, ist selbst schuld. Weil wenn du dich nicht für die Männer anziehst, wie du sagst, warum trägst du dann nicht lange Röcke? Von der Mutter: Um heute eine Frau zu sein, muss man nichts davon sein, was eine Frau einmal gewesen sein muss. Man kann mehr, als die Männer, man ist mehr als die Männer.

Portraitfoto Autorin Marie Gamillscheg

© Jens Oellermann

Marie Gamillscheg, geboren 1992 in Graz, lebt als freie Autorin in Berlin. Ihr Roman „Alles was glänzt“ wurde für den aspekte-Literaturpreis nominiert und mit dem Österreichischen Buchpreis für das beste Debüt 2018 ausgezeichnet.

Marie Gamillscheg richtet einen ungeschönten Blick auf das Thema „Frauwerden“ in einer immer komplexer werdenden Welt. Welche Anforderungen an eine Frau heute gestellt werden, welche Außenwahrnehmungen und Zuschreibungen immer noch kursieren und wie schwierig es ist, sich von diesen zu lösen. Es ist auch ein Roman über die Töchter einer Nachkriegsgeneration, deren ProtagonistInnen oft nur starre Rollenbilder vermittelten konnten. Darüber hinaus sind es die konträren Charaktere ihrer Eltern und deren scheiternde Beziehung, die Luise ratlos zurücklassen:

Sie wusste schließlich nicht, wie das geht: Frau werden. Sie wusste nur, dass es gefährlich war.

Die Folgen davon vermittelt die Metapher der Meerwalnuss, die Luise erforscht. Es ist eine Qualle, die ohne Herz und Hirn die Reize nur über ihre Haut wahrnimmt, so wie Luise von ihren Gefühlen abgeschottet nur mehr ihre Haut und die starke Neurodermitis als Reaktion auf die Außenwelt wahrnehmen kann. Gleichzeitig ist die Meerwalnuss auch Sinnbild für unseren zerstörerischen Umgang mit Ökosystemen. Marie Gamillscheg stellt mit der als „invasiven marinen Lebewesen“ bezeichneten Meerwalnuss die Frage, wer hier eigentlich Angreifer und wer Opfer ist. Schließlich hat der Mensch - immer mehr entkoppelt von der Natur - die Qualle in Gebiete eingeschleppt, die sich hervorragend zu ihrer ungestörten Vermehrung eignen, und so ist der Mensch erst einmal der Verursacher und nicht das Opfer dieser Plage.

Von der Aufruhr zum Auftauchen

„Aufruhr der Meerestiere“ ist ein aufwühlender Roman, der einen unglaublichen Sog entwickelt. Marie Gamillscheg zieht uns immer tiefer unter Wasser in die Stille, in der Luises innerer Kampf immer lauter wird. Geschickt und überraschend verwebt die Autorin die gegenwärtige Situation der Protagonistin mit ihren Kindheitserinnerungen. Orte und Zeiten verschwimmen; Gegenwart und Vergangenheit vermischen sich und machen spürbar, wie sich familiäre und gesellschaftliche Prägungen im Lebensalltag auswirken.

Man wünscht der Meeresbiologien ein Auftauchen aus ihren Verstrickungen, aus ihrer emotionalen Taubheit und dem schwierigen Familiensystem, das noch immer nachwirkt. Es schmerzt, durch Luises Wahrnehmungs- und Gefühlswelt zu schwimmen und mitzubekommen, wie wenig wirklicher Austausch und Beziehung ihr möglich ist. Selbst für Marie Gamillscheg war dies ein schwieriger Prozess, wie sie in einem Interview mit dem Luchterhand Verlag meint:

„Zu Beginn war der Roman ein reiner Wut-Text, der mit einer gewissen Leichtigkeit daherkam. Erst als ich mich weiter der Figur näherte und die Einseitigkeit von verschiedenen Wirklichkeits- und somit auch Perspektivebenen eingelöst wurde, wurde es immer schwieriger mich von der Figur zu trennen, wurde es zugleich aber auch immer schmerzhafter, mich ihr noch weiter anzunähern – und dennoch war das wichtig. Ich glaube, erst ab diesem Zeitpunkt ist aus einem Text ein Roman geworden.“

Bei allen metaphorischen Bildern, den Metaebenen und klugen, ökologischen, gesellschaftskritischen und lebensphilosophischen Betrachtungen, die in den Text verwoben sind, ist „Aufruhr der Meerestiere“ vor allem die sehr persönliche Geschichte einer Befreiung. Während sich alles um und in Luise immer mehr zuspitzt, öffnet Marie Gamillscheg für die Meeresbiologin ganz langsam eine Türe, die einen Schimmer Hoffnung in das Gefühlsdunkel dringen lässt.

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