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Silhuette eines Mannes, der den Kopf an eine Wand lehnt

CC0 von Road Trip with Raj on Unsplash

Testament der Angst

Coronakrise, Klimakrise, Kriegsangst. Wohin mit all der Wut, Resignation und Erschöpfung? Was macht diese hässliche, neue Welt mit uns? Jedenfalls wird nichts jemals wieder so sein, wie zuvor. Ein Kommentar zur Zeit, in der wir leben.

Ein Kommentar von Alexandra Augustin

Europa im Frühjahr 2022: Was für ein absurder Moment unserer Gegenwart. Was für ein groteskes Theater wird eigentlich gerade aufgeführt? Hierzulande haben wir den Höchststand der Corona-Infektionen seit Anbeginn der Pandemie erreicht. Dazu erschüttern ein Krieg und eine Krise die Welt. Nach diesen zwei Jahren, in denen viele Menschen Familienmitglieder, Freunde, ihre Existenzgrundlage verloren oder ohne Pause geschuftet haben: Jetzt, am Höhepunkt, kommt es in diesem Schauspiel noch einmal zu einer dramatischen Wendung. Seid bereit für das Grande Finale! Vorhang auf, Applaus und Feuerwerk. Den Wendepunkt einer Handlung in der Tragödie nennt man „Katastrophe“. Der Punkt, an dem sich das Schicksal zum Glück oder Unglück entscheidet. Ein Begriff, der bereits im antiken Griechenland bekannt war. Doch wo soll es sein, dieses Glück? Das Unglück ist jedenfalls unübersehbar.

“I′m a movie with no plot, written in the backseat of a piss-powered taxi” sang Chilly Gonzales 2010 im Lied “I Am Europe”. Und „geht die Welt unter, dann hat zumindest unser Berufsstand genug zu tun“, lautet ein klassischer Witz von Menschen in meiner Branche. Auf das Szenario einer weltweiten Pandemie, inklusive Krieg in Europa, einer Klimakrise und einer zeitgleich sehr „abwechslungsreichen“ Innenpolitik kann dich aber auch eine Extraportion Abgebrühtheit nicht vorbereiten. Man bleibt „situationselastisch“.

Auch ich liege dieser Tage flach. Da hat man Zeit zum Nachdenken. Mir blieb zuletzt die Luft weg. Aus bekannten Gründen. Am 24. Februar 2022, gegen fünf Uhr früh stand ich mit meiner Kollegin in der Teeküche im Sender. Wir haben die Sendung besprochen. Dann kam die Meldung, dass Wladimir Putin die Ukraine überfallen hat. Knapp 20 Minuten später waren wir On Air. Wir waren zu dritt im Studio. So ist das dieser Tage bei uns. Nichts ist mehr planbar dieser Tage. Nicht einmal die Rahmenbedingungen.

„Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind,
wir sehen sie so, wie wir sind.“
(Anaïs Nin)

Für den Tag darauf war ich mit meinen besten Freundinnen auf ein Getränk verabredet, es war mein Geburtstagswochenende. Wir wollten den Schrecken wenigstens für einen Moment vergessen. Wir waren zu fünft unterwegs. Nach diesem Abend wurden wir alle positiv getestet. Anfangs lacht man darüber. Dann fiebert und hustet man. Die Augen tun weh. Der Schüttelfrost hält einen wach. Alles ist anstrengend. Der Schlafrhythmus verschiebt sich. Man verschiebt sein Leben. Und dann, wenn es plötzlich schon besser geht, geht’s am übernächsten Tag vielleicht wieder schlechter.

Drehschwindel, Rückenschmerzen. Mensch ärgere dich nicht, zurück zum Start. Dazu starrt man in Nachrichtensendungen hinein, wo die noch schrecklichere Parallelwelt stattfindet.

Ich „darf“ krank sein. Ich habe verständnisvolle Kolleg*innen und Vorgesetzte. Mein Arzt hat bald einen Termin für mich – allerdings erst im Juni. Ich schätze, Lungenfacharzt ist ein Beruf mit Zukunft, bei aktuell rund 500 000 positiven Fällen in Österreich.

Wenn die Katastrophe zur Normalität wird

Meine Freundin E. meint, alle verlieren gerade die Nerven, alle Menschen drehen durch. Unser Sinn für die Realität hat sich verschoben. Das was gerade passiert werden wir erst Monate oder Jahre später verarbeiten und verstehen können. Die monatelangen Lockdowns. Die Schrammen am Körper und an der Seele. Europa – wieder einmal - im Ausnahmezustand. Alles fühlt sich so an wie die Restaurantszene „Terror at Lunch“ im dystopischen Spielfilm „Brazil“ von 1985 von Terry Gilliam.

In einer Szene sitzen ein paar schönheitsoperierte Damen in einem noblen Restaurant beisammen. Es wird ein groteskes Astronautenessen serviert, ein grünes, Kotze-ähnliches Püree. Echte Lebensmittel gibt es in dieser kaputten Zukunft nicht mehr. Ein zugehöriges Bild neben dem Teller zeigt jedoch das Gericht, welches diese Surrogat-Speise nachahmen möchte – geschmorte Kalbsbäckchen in Rotweinsauce. Der Geschmack einer längst vergessenen Zeit. Dann geht mitten im Lokal eine Bombe hoch. Das Orchester wird verletzt, doch es steht auf und spielt rußverschmiert weiter. Die Gesellschaft am Tisch ist kurz erschrocken, schnattert jedoch sogleich weiter, während ringsum verwundete Menschen und Körperteile herumliegen. Wir alle leben mittlerweile in einer solch brutalen Parallelwelt. Es gibt sogar eine Wissenschaft, die sich mit der Thematik auseinandersetzt: Die Katastrophenforschung.

„Was wir sehen, verändert das, was wir wissen.
Was wir wissen, ändert das, was wir sehen.“
(Jean Piaget)

In Japan kam es bekanntlich im März 2011 zu einer Tsunamikatastrophe: Das Tōhoku-Erdbeben löste eine Flutwelle aus. Die Anzahl der Opfer beträgt heute 22.199 Menschen. Exakt 19.630 starben bei den einzelnen Katastrophen, 2.569 gelten bis heute als vermisst. Das Erdbeben, der folgende Tsunami und die Nuklearkatastrophe von Fukushima werden zusammen auch als „Dreifachkatastrophe“ bezeichnet. Im Zuge der monatelangen Aufräumarbeiten haben Wissenschaftler*innen untersucht, wie Menschen sich im Angesicht der bestehenden Bedrohung verhalten und verändern: Nach sechs Wochen wird jede Katastrophe in den Medien zur Randmeldung, erklärte der Katastrophenforscher Martin Voss damals in einem Interview in der TAZ.

Die Reize stumpfen ab. Der Körper kann eine permanente Adrenalinausschüttung unter Stress nicht ewig aufrechterhalten. Man gewöhnt sich an Schreckensmeldungen. Aber was ist eigentlich noch eine reale Meldung und was ist Fiktion? Elon Musk hat Wladimir Putin jüngst via Twitter zum körperlichen Zweikampf herausgefordert. Mann gegen Mann, Auge um Auge, Zahn um Zahn. Der Einsatz: Die Ukraine. Wahrgewordene Satire.

Ich habe in den letzten Tagen viel Zeit im Netz verbracht und Fragen eingetippt wie: „Wie kann man mit dem Tod leben lernen?“ Kürzlich hat der Schwesternsender eine Sendereihe über den Tod gestaltet. So viel Sendezeit zu diesem Thema gab es bisher noch nicht im ORF Radio. Denn, obwohl die Bilder des Schreckens freilich schon vor der Pandemie und dem Krieg in der Ukraine medial omnipräsent gewesen sind und der Tod ein Teil unseres Lebens ist, wird darüber trotzdem nur selten gesprochen. Der französische Philosoph Michel de Montaigne hat einst gesagt: „Man muss ertragen lernen, was man nicht vermeiden kann.“ An dieser Lektion sitzen wir jedenfalls seit über zwei Jahren. Und wir führen Buch: In Österreich zählt man bisher 3.538.385 laborbestätigte Fälle und 14.741 Coronatote (Stand 21.3. 2022). Aber Österreich ist ein kleines Land: Deutschland zählt bisher 126.929 Todesfälle bei 18.772.331 Menschen, die sich nachweislich mit dem Coronavirus infiziert haben.

Status Quo Vadis

Ich habe in den letzten zwei Jahren vier Menschen im Umfeld verloren. Meine Tante ist direkt am Anfang der Pandemie gestorben – genau an meinem Geburtstag. Eine meiner ältesten Freundinnen ist zwei Monate später am Heimweg von der Arbeit umgefallen. Einfach umgefallen. Die erste Frage lautet oft: War es Corona? Und wenn es dann nicht so ist, dann atmet das Gegenüber manchmal etwas auf. Als wäre man erleichtert, dass es noch so etwas wie einen „normalen“ Tod gibt. Die erste Beerdigung habe ich wegen des ersten Lockdowns nicht besucht. Ich war aber kurz „via Stream dabei“. Wie absurd ist eine Videoübertragung von einem einst nahen Menschen im Sarg eigentlich?

Ich muss an die Menschen denken, denen es schlechter geht. Diejenigen, die wegen des Krieges in der Ukraine niemals eine Chance haben, sich würdig zu verabschieden. Ich lese, dass wegen der Stromausfälle in der Ukraine die Leichenhallen die Toten nicht mehr kühlen können. Auch die Hallen in Belarus sind überfüllt, denn seit Kriegsbeginn sind angeblich über 12.000 russische Soldaten gefallen und viele sind dorthin transportiert worden.

Was wird das alles einmal für Konsequenzen haben? Die „Generation Z“, also junge Menschen, die zwischen 1995 und 2010 geboren worden sind, hat angeblich so viele Ängste, wie keine Generation davor. Meine kleine Nichte wollte vor zwei Jahren nicht, dass das Christkind kommt. Denn „das kommt ja ins Haus und bringt Corona mit“. Ich frage mich, ob die Angst nur bei der jüngsten und vulnerabelsten Generation so ausgeprägt ist? Hätte man die Gesamtgesellschaft mitgemessen, wie sehe diese Studie aus?

Ich bin an der Schnittstelle der Gen X und Y – den Millennials - geboren. Meine Kindheit und Jugend fand in den 1980er- und 1990er-Jahren statt. Ich erinnere mich gut daran, als wir im Kindergarten gespielt haben und die Pädagogin uns eines Tages aufgeregt reingeholt hat. Ich verbrachte einen ganzen Sommer in meinem Zimmer im Plattenbau am Stadtrand von Wien. Der graue Beton war mein Horizont. Man durfte nicht hinaus, denn unsichtbare Strahlen waren gefährlich und überall. Aktuell ist die Gegend rund um Tschernobyl umkämpftes Gebiet. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im havarierten Atomkraftwerk mussten die letzten vier Wochen dort ohne Schichtwechsel die Stellung halten. Zeitweise mussten Notstromaggregate die Kühlung von radioaktivem Material aufrechterhalten.

„Die Gewöhnung an Ironie ebenso wie die an Sarkasmus, verdirbt übrigens den Charakter. Sie verleiht allmählich die Eigenschaft einer schadenfrohen Überlegenheit: Man ist zuletzt einem bissigen Hunde gleich, der noch das Lachen gelernt hat außer dem Beißen.“
(Friedrich Nietzsche)

Die Katastrophen der Welt fühlen sich mittlerweile so an wie Abschnitte auf einer Möbiusschleife: Alles ist eine Wiederholung der Wiederholung. Ich fühle mich schuldig. Ich sitze in einem stabilen Land. Ich kann nichts tun, nur Geld spenden. Kapital verschieben. Ich habe „nur“ Corona gehabt, so wie der halbe Freundeskreis mittlerweile auch. Das ist schon fast zum Lachen. Aber worüber darf man eigentlich noch lachen? Darf man die groteske Gegenwart sarkastisch kommentieren, in der wir unser Leben jonglieren müssen? Auf was soll man sich fokussieren, wenn sich die Welt so schnell dreht? Und wie soll man mit Empathie einer der größten Katastrophen der Gegenwart begegnen, wenn sie einem gleichzeitig abgesprochen und abgewöhnt wird?

Akute Hilfe

Wenn die Angst zu groß wird und die Sorgen Überhand nehmen, sprich mit deiner Familie oder deinen Freund*innen darüber und du kannst rundum die Uhr hier anrufen:

Telefonseelsorge: 142

„Rat auf Draht“: 147

Das Gesundheitsministerium bietet für Personen mit Suizidgedanken und deren Angehörige Hilfsangebote über das Suizidpräventionsportal an. Unter www.suizid-praevention.gv.at finden sich mehr Details zu weiteren österreichische Hilfseinrichtungen. Insbesondere für Jugendliche gibt es die Website www.bittelebe.at.

Die Belegschaften kriechen vielerorts längst am Zahnfleisch daher. Ständig wechselnde Politiker stellen trotzdem immer wieder neue Regeln auf. Situationselastisch bleiben! Masken, Impfungen und Tests? Gibt’s vielleicht überüberübernächste Woche wieder. Die Quarantäne könnte man auch verkürzen, damit es nicht so viele Ausfälle gibt. Als wäre eine Corona-Infektion eine Reagenzglas-Studie, an der alle Menschen mit gleichen Voraussetzungen teilnehmen. Doch unsere Vorgeschichten könnten unterschiedlicher nicht sein: Chronisch erkrankt. Völlig gesund. Migräne. Endometriose. Krebs. Chemotherapien. Psychische Probleme. Wir haben Kinder. Sind eigentlich noch Kinder. Haben Kinder verloren. Haben den Job verloren. Haben Schulden. Haben nie Geld gehabt. Glauben nicht an den Virus. Glauben an das Ende der Menschheit. Glauben an gar nichts mehr.

Im Herbst könnte es eine neue Virusvariante geben. Schon jetzt vermuten Experten, dass eine „Durchseuchung“ dann nicht viel wert sein wird. Schicken wir einfach alle in einen großen, kollektiven Krankenstand. Danach kann man sagen, wir hätten diese Krise gemeinsam bewältigt. Das große Durchrauschen. Vielleicht ist dieser Moment in ein paar Monaten aber genauso obsolet und vergessen wie die Delphine, die vor Monaten das glasklare Meer und die Kanäle im plötzlich menschenleeren Venedig für einen Moment zurückerobert haben. Aktuell steht der Wasserstand dort leider bei 50 Zentimeter unter dem Meeresspiegel und in den Kanälen findet man nur stinkenden Schlamm.

Die ersten Kirschblüten duften aber jetzt schon. Der Herbst ist noch in weiter Ferne. Lächelt und seid froh. Jetzt kommt der Frühling. Erholt euch! Damit der entseuchte Körper Kraft tankt. Füllt euren Vitamin D-Spiegel in der Sonne auf. Schon fast ohne Maske im Gesicht. Wie sagt man so schön: You only live once, yolo.

FM4 Auf Laut: Wohin mit unserer Angst?

Wenn du dich mit all den Krisen zurzeit auch überfordert fühlst, dann teile deine Gedanken mit uns in „Auf Laut". FM4-Moderatorin Claudia Unterweger steht am Dienstagabend (22.3.) gemeinsam mit Psychologin Elke Prochazka und Zeitzeugin Selma Jahić mit einem offenen Ohr im Studio. Ruf uns am Dienstag ab 21 Uhr direkt im FM4-Studio an: 0800 226 996 oder schick uns doch schon vorab eine WhatsApp Sprachnachricht an +43 664 828 44 44.

Alina Schaller hat vorab schon Selbsthilfe-Tipps von Elke Prochazka eingeholt.

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