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Irmgard Griss

APA/ROLAND SCHLAGER

interview

Irmgard Griss über das Urteil im Fall von Tina und das Kindeswohl im Asylwesen

Der Fall der Wiener Schülerin Tina, die letztes Jahr mit ihrer Familie nach Georgien abgeschoben wurde, hatte eine Diskussion über die Rolle des Kindeswohls bei Asylentscheidungen ausgelöst. Ein Jahr später stellt das Bundesverwaltungsgericht fest, dass die Abschiebung rechtswidrig war. Wir haben mit der ehemaligen Abgeordneten und Präsidentin des Obersten Gerichtshofs über das Urteil geredet.

Von Ali Cem Deniz

Am 21. Jänner 2021 werden Tina und ihre Familie von der Fremdenpolizei geweckt und unter Protest ihrer Mitschüler*innen zum Flughafen gebracht. Sowohl die Durchführung der Abschiebung als auch das harte Vorgehen der Polizei gegen die Demo sorgen für Entrüstung. „Wenn das gesetzeskonform ist, dann stimmt etwas mit den Gesetzen nicht“, sagt Tinas Mitschüler Theo Haas in einem viel beachteten Interview mit der Zeit im Bild. Während Karl Nehammer als damaliger Innenminister die Entscheidung verteidigt, bringen die Ereignisse insbesonders die Grünen unter Druck. Daraufhin kündigt Vizekanzler Werner Kogler, als damaliger Justizminister, die Einrichtung einer Kindeswohlkommission an, die Empfehlungen für die Politik und die Behörden ausarbeiten soll. Die ehemalige NEOS-Abgeordnete und Präsidentin des Obersten Gerichtshofs übernimmt die Leitung der Kommission, die im vergangenen Sommer in einem 450 Seiten starken Abschlussbericht umfassende Reformen des Asylwesens vorschlägt. Von der Politik wurden diese Empfehlungen bisher ignoriert, trotzdem glaubt Irmgard Griss, dass es eine neue Sensibilität für das Kindeswohl bei Asylprozessen gibt.

Ali Cem Deniz/Radio FM4: Wie bewerten Sie dieses aktuelle Urteil jetzt im Fall von Tina?

Irmgard Griss: Für mich ist diese Entscheidung ein positives Zeichen, und zwar darum, weil hier das Kindeswohl eingehend geprüft wird und auch dem Kindeswohl die Bedeutung zugemessen wird, die ihm zukommen muss. Österreich hat sich verfassungsrechtlich und international rechtlich verpflichtet, das Kindeswohl immer vorrangig zu berücksichtigen. Und diese Entscheidung sagt jetzt, dass die Berücksichtigung des Kindeswohls dazu führen kann, dass die Familie in Österreich bleiben kann, auch wenn sie wiederholt Anträge gestellt hat, die von vornherein als aussichtslos betrachtet werden mussten.

Tina hat jetzt ein Schülervisum bekommen. Das ist ja auch kein dauerhafter Aufenthaltstitel in Österreich. Ist das nicht so eine Kompromisslösung, wo es für die Familie wieder unklar ist, wie es weitergeht?

Ja, das ist natürlich eine Hilfe für das Kind, damit Tina in Österreich bleiben kann, bis sie die Schule beendet hat. Aber das bedeutet natürlich nicht, dass die Familie nachkommen kann. Ein Schülervisum berechtigt nicht dazu, die Familie nachzuholen. Wenn hingegen Minderjährige in Österreich Asyl bekommen, dann haben sie die Möglichkeit, ihre Familie nachzuholen. Das ist der große Unterschied.

Warum denken Sie, ist das damals so abgelaufen? Obwohl ja schon damals viele gesagt haben, dass diese Abschiebung rechtswidrig sein könnte.

Ich weiß nicht, warum man da gemeint hat, man muss ein Zeichen setzen und beweisen, dass man in der Asylpolitik und vor allem in der Fremdenpolitik hart ist und nicht nachgibt. Ich kann es mir nur so erklären, dass das schon auch einen parteipolitischen Hintergrund hat und eine parteipolitische Motivation dahinter steckte.

Es war klar, dass man jedenfalls nicht so vorgehen kann, dass man in der Nacht eine Familie abholt - mit diesem ganzen Aufgebot, mit dem man gekommen ist -, dass das nicht vereinbar ist, mit den Rechten von Kindern, mit dem Schutz von Kindern, das war völlig klar. Wenn Familien mit Kindern abgeschoben werden müssen, dann soll das nach Möglichkeit nicht während des Schuljahres erfolgen. Die müssen dann ihre Ausbildung unterbrechen. Die haben die Klasse nicht abgeschlossen und das ist ein unnötiges Erschwernis. Da kann man doch abwarten, bis das Schuljahr zu Ende ist, wenn es absolut notwendig ist, eine Familie abzuschieben.

Denken Sie, dass die Kindeswohlkommission, die sie geleitet haben, eine Rolle gespielt hat in dieser Entscheidung einerseits und auch vielleicht in einer Art Sensibilisierung für für das Kindeswohl?

Also ich hoffe es und das wäre ja ein schönes Ergebnis. Die Argumentation, die das Bundesverwaltungsgericht hier macht, entspricht ja dem, was wir auch im Bericht schreiben. Auch die Frage mit dem anpassungsfähigen Alter, das oft einfach als Argument gebracht wird: „Ja das Kind ist noch in einem anpassungsfähigen Alter und daher muss ich das gar nicht mehr näher anschauen.“ Und in dem Fall wird gesagt: Ein Kind, das jetzt zwölf oder dreizehn Jahre alt ist, das ist hier sozialisiert und es ist nicht mehr in dem Maße anpassungsfähig, dass man sagen kann, wenn es zurück nach Georgien muss, dann ist es für überhaupt kein Problem.

Im Bericht wird ja auch ausführlich dargelegt, dass es ein anpassungsfähiges Alter, wo man sagen kann, dass Kinder ohne Weiteres zurückgeschickt werden können, nicht gibt. Das ist sehr individuell, das ist sehr verschieden. Das hängt natürlich stark davon ab, wie lang ein Kind in Österreich gelebt hat. Wenn das sieben, acht Jahre waren, ist das eine extrem lange Zeit für ein Kind. Da ist schon die Hoffnung, dass vielleicht einige mehr darüber nachdenken werden. Am Bundesverwaltungsgericht führt man ja auch Schulungen durch. Die Richterinnen und Richter haben die Möglichkeit, da noch Ausbildungen zu besuchen. Ich glaube schon, dass so das Bewusstsein dafür geschärft werden kann.

Wenn man jetzt in diesen Tagen am Hauptbahnhof in Wien vorbeikommt, sieht man ja auch sehr viele Kinder, die aus der Ukraine geflohen sind, die jetzt vielleicht in Asylprozesse kommen. Denken Sie, dass da genug auf das Kindeswohl geschaut werden wird?

Das große Problem sind vor allem die Kinder, die ohne ihre Eltern kommen. Das sind Kinder, die in Kinderheimen oder in Waisenhäuser in der Ukraine gelebt haben. Sehr oft sind es Kinder mit besonderen Bedürfnissen, die in Heimen gelebt haben. Und da ist bisher, jedenfalls meinen Informationen nach, noch nicht sichergestellt, dass diese Kinder bei uns so versorgt und betreut werden, wie österreichische Kinder, die in Wohngemeinschaften leben.

Das sind ja Wohngemeinschaften, die hierher kommen. Wir haben dann jeweils 10 Kinder, 2 Betreuer, da ist zu klären, wer die Obsorge für diese Kinder hat. Die Obsorge hat wahrscheinlich der ukrainische Staat. Ich nehme das an, da die Kinder ja nicht deren Eltern sehen. Und hier muss man ganz dringend eine Lösung finden, dass für diese Kinder bestmöglich gesorgt wird und auch, dass bei ihrer Unterbringung die nötigen Mittel zur Verfügung stehen. Für österreichische Kinder, die in Fremdbetreuung sind, wird ja sehr viel aufgewendet. Das sind hohe Tagessätze, die bezahlt werden. Für geflüchtete Kinder sind die wesentlich niedriger. Und das ist eine Ungleichbehandlung, die nicht zu rechtfertigen ist. Also muss man schauen, dass für Kinder, die ohne ihre Eltern, ohne ihre Obsorgeberechtigten da sind, sichergestellt ist, dass jemand für sie rechtlich und für die Pflege zuständig ist.

Man muss natürlich auch absolut darauf schauen, dass es nicht dazu kommt, dass Kinder Opfer von Kinderhandel werden.

Wenn unbegleitete Kinder kommen, dass die sofort aufgenommen werden, dass sich jemand um sie kümmert, dass jemand die Obsorge für sie hat, das ist ganz entscheidend. Wenn das Familien mit Kindern sind, dann muss auch für eine entsprechende Unterbringung gesorgt werden. Es muss geschaut werden, dass die Kinder die Schule besuchen können, was natürlich eine gewaltige Herausforderung ist. In manchen Ländern werden ukrainische Klassen eingerichtet, man sucht ukrainische Lehrer, die auch geflüchtet sind. Ich hoffe, dass hier auch der Wille bei den Behörden und bei der Regierung besteht, da das Notwendige zu tun. Da ist jedenfalls für Kinder mehr zu tun, als für geflüchtete Erwachsene und vor allem sicherzustellen, dass Kinder, wenn sie besondere Bedürfnisse haben, auch entsprechend versorgt werden.

Glauben Sie, dass Österreich gut auf diese Aufgaben vorbereitet ist? Wenn es in den letzten Jahren um Asylpolitik ging, hieß es ja hauptsächlich „2015 darf sich nicht wiederholen“. Jetzt haben wir eine Situation, wo vielleicht noch mehr geflüchtete Menschen kommen könnten.

Man sieht ja jetzt, wie schwierig es ist, wieder diese Strukturen zu errichten, dass die Leute registriert werden. Das ist sehr schwierig. Ich weiß nicht, ob man sagen kann, dass ein Staat wirklich gut darauf vorbereitet ist. Ich glaube, wir sind besser darauf vorbereitet als 2015, was schon viel ist. Die Erfahrungen aus 2015 sind hier sicher wertvoll und sie werden auch verwendet. Wie 2015 sieht man aber auch jetzt, dass der Staat allein das nie leisten kann, wenn nicht die Zivilgesellschaft bereit ist, wenn nicht private Personen bereit sind, zu helfen.

Was jetzt sehr positiv ist, ist die allgemeine Stimmung. Das war 2015 sehr kurz am Anfang so, aber das hat sich dann bald geändert. Ich hoffe, dass das anhält. Aber ich glaube, in keinem Staat der Welt können der Staat und die Behörden das alleine bewältigen. Das wird immer auch eine Aufgabe der Zivilgesellschaft sein. Es gibt viele Gruppen, die sich hier zusammengetan haben, seinerzeit schon und auch jetzt wieder, die bereit sind, sich zu engagieren. Und daher bin ich überzeugt, dass es uns diesmal besser gelingen wird, mit dieser, vor allem für die geflüchteten Menschen, ganz schwierigen Situation fertig zu werden.

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