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TikTok Schriftzug und zensierte Wörter

FM4 / Claus Diwisch

Umfangreiche Zensur auf TikTok auch in Österreich

Seit Jahren werden regelmäßig neue Zensurvorgänge der chinesischen Social-Media-Platform TikTok bekannt – auch in Europa. Jetzt berichtet die ARD Tagesschau, dass in Deutschland Kommentare, in denen Begriffe wie „homophob“, „queer“, oder „Auschwitz“ vorkommen, systematisch und großflächig nicht angezeigt und dadurch zensiert werden. FM4 hat das nun auch in Österreich nachweisen können.

Von Claus Diwisch

Eigentlich würde man erwarten, dass man über Homosexualität, Auschwitz oder Prostitution offen sprechen kann. Auf der Plattform TikTok ist das derzeit nicht der Fall. Laut dem Internetmonitor von Safer Internet wird TikTok in Österreich von rund 70 Prozent der Jugendlichen genutzt und gehört dem chinesichen Konzern ByteDance. Das chinesische Regime hat im vergangenen Jahr ein Mitglied des Aufsichtsrates bei ByteDance mit einem ehemaligen Propaganda-Beauftragten Chinas besetzt. Seit 2019 wird immer deutlicher, dass chinesische Politik über die Algorithmen auch Einfluss auf die europäische Gesellschaft nimmt.

In Tests konnte FM4 das Vorhandensein von Filterlisten auch für Österreich und den ORF bestätigen. Testweise haben wir mit neuen Accounts Kommentare mit den von der ARD-Recherche gefundenen Begriffe verfasst, wie z.B. „Gibt es auch queere und schwule Themen bei Starmania?“. Solche Kommentare wurden automatisiert von TikTok unterdrückt und sind für niemanden sichtbar, außer der Person, die sie geschrieben hat. Diese wird im Glauben gelassen, ihr Kommentar wäre publiziert und öffentlich. Selbiges ließ sich auch bei Kommentaren unter Videos der Zeit im Bild nachweisen - unter anderem bei einem Video, in dem es über Putins Internetzensur geht.

Screenshot der Kommentare von TikTok

TikTok

Die selbe Ansicht auf zwei unterschiedlichen Geräten - die Frage des Testaccounts ist für niemand anderen sichtbar.

Die investigative Recherche der Tagesschau hat mindestens 19 Begriffe entdeckt, die in Kommentaren automatisch ausgeblendet werden - unter anderem „Auschwitz", „gay“, „homophob“, „LGBTQ“, „Nationalsozialismus“, „Pornografie“ oder „schwul“. Nachdem TikTok von der Tagesschau mit der Recherche konforntiert wurde, waren immer noch elf der ursprünglich 19 Wörter auf der Liste gesperrt. TikTok bestätigt das Verhalten gegenüber der Tagesschau und gesteht, wie in der Vergangenheit schon oft, Fehler ein und verspricht Besserung. „Wir sind uns darüber im Klaren, dass dieses Vorgehen in diesem Fall nicht zielgerichtet war, und wir arbeiten mit Hochdruck daran, unser Vorgehen zu überarbeiten.“, so eine Stellungnahme von TikTok gegenüber der Tagesschau.

Die unklaren Linien von TikTok

Die zunehmenden Berichte aus der LGBTIQ-Community, dass ihre Inhalte gesperrt oder mit einem Shadowban, versehen und nicht angezeigt und verteilt werden, fällt 2021 zeitlich zusammen mit Meldungen aus China, das vermehrt gegen „verweichlichte Männer“ in den Medien vorgehen möchte. TikTok betont bei jeder Gelegenheit, dass es in Europa unabhängig vom Mutterkonzern ByteDance und China handle - die Kommunikation und die tatsächlichen Handlungen von TikTok sind aber widersprüchlich.

Die Plattform bemüht sich, als LGBTIQ-freundlich zu gelten. In Presseaussendungen präsentiert das Unternehmen Kampagnen wie „#TikTokComic“, die die Sichtbarkeit der LGBTIQ-Community erhöhen sollen. Real geht es dabei aber wenig um queere Menschen oder deren Akzeptanz, sondern um Superheld*innendarstellungen. Es ist ein von TikTok bekanntes Muster, dass gleichzeitig Kampagnen für Inklusion laufen, während Moderationsregeln gelten, die dem eindeutig widersprechen - zuletzt war das der Fall, als öffentlich wurde, dass TikTok die Reichweite von Menschen mit Behinderungen einschränkt.

Trotz der Zensur sind dennoch viele queere und anzügliche Inhalte und Communities auf TikTok aktiv, die eigene Methoden entwickelt haben, um Filter zu umgehen. So wird z.B. „Seggs“ oder „S3x“ statt „Sex“ geschrieben oder Begriffe mit Sonderzeichen flankiert, um sie durch die Zensur zu schleusen. Diese Codes dienen gleichzeitig auch als Identifikationsmittel. TikTok ist als süchtigmachende Unterhaltungsplattform konzipiert, die jede Kontroverse vermeiden möchte. Es passiert darauf auch viel politisch und gesellschaftlich Relevantes, die Sichtbarkeit dieser Inhalte hängt aber von den Vorgaben des Unternehmens ab.

Im Transparenzbericht des Unternehmens zeigt sich, dass sich die Anzahl der gelöschten Videos von rund 40 Millionen im Zeitraum Juli bis September 2020 auf rund 90 Millionen im Zeitraum Juli bis September 2021 mehr als verdoppelt hat. 88 Prozent davon würden entfernt, bevor das Video jemand gesehen hätte. Die Gründe sind nicht sehr detailreich aufgeschlüsselt – der Großteil macht der „Schutz Minderjähriger“ aus, was sehr weit interpretiert werden kann. Dieser Begriff hat in anderen Ländern wie Ungarn oder Russland etwa in Hinblick auf Homosexualität eine ganz andere Bedeutung, als in Österreich.

TikTok im Ukrainekrieg

Interessant ist auch das Verhalten der Plattform im Krieg in der Ukraine. The Guardian berichtet, dass neue User*innen schon nach 45 Minuten Nutzungszeit einen Feed mit Falschmeldungen zum Ukrainekrieg angezeigt bekommen.

Während Instagram und Facebook in Russland verboten wurden, weil sie die Bedingungen Russlands nicht akzeptieren wollten, kooperiert TikTok mit Russland und setzt seine Zensur um. Seit 7. März sind Inhalte, die nicht aus Russland stammen, im russischen TikTok nicht mehr auffindbar. Gleichzeitig wird TikTok für koordinierte Kampagnen russischer Kriegspropaganda verwendet, wie Vice berichtet. Laut einer Studie von tracking.exposed hat Russland defacto sein eigenes, privates TikTok bekommen - rund 95 Prozent der Inhalte wurden entfernt, keine westlichen Inhalte sind mehr zugänglich.

Gleichzeitig zensiert China laut Reuters auf Weibo, WeChat und Douyin (das chinesische TikTok) russische Proteste gegen den Krieg in Russland. Während also öfter behauptet wird, dass die Ukraine den Informationskrieg gewonnen hätte, ist das häufig eine eurozentrierte Sicht auf die Dinge. Die Trennung des Internets ist massiv und schnell fortgeschritten - im russischen Internet zeichnet sich ein ganz anderes Bild ab als in Europa. Die Wahrnehmungen auf den verbliebenen Plattformen ist dort mit chinesischer Hilfe pro-russisch.

Nicht der erste Vorfall

Da sich in den vergangenen Jahren die Zensurberichte und die darauffolgenden Entschuldigungen von TikTok mehren und der Überblick manchmal schwer zu behalten ist, gibt es hier eine Übersicht:

  • 2019 - The Guardian berichtet darüber, wie China seine Außenpolitik über China hinaus ausweitet, indem es TikTok-Videos über den Tiananmenplatz oder Tibet zensieren lässt.
  • 2019 - The Washington Post berichtet, dass die Proteste in Hongkong auf TikTok nicht abgebildet sind.
  • 2019 - Vice berichtet, dass ihre chinakritischen Videos aus Hashtagsuchen verschwunden sind. TikTok nennt das einen „Bug“.
  • 2019 - netzpolitik.org veröffentlicht umfangreiche Leaks über die TikTok-Moderationsregeln, aus denen unter anderem hervorgeht, dass TikTok die Reichweite von Übergewichtigen oder Menschen mit Behinderung einschränkt. TikTok erklärt, das geschehe zum Schutz der Menschen vor „bullying“.
  • 2019 - Vice findet heraus, dass Darstellungen von Polizeigewalt unabhängig der Herkunft gelöscht werden.
  • 2020 - The Intercept berichtet davon, dass TikTok um neue User*innen anzulocken, Menschen mit Bierbauch, Personen, die schielen oder sichtbar Armut in Armut leben, vom Algorithmus her benachteiligt.
  • 2021 - netzpolitik.org berichtet, dass die chinesische Regierung Anteile an ByteDance, dem Mutterkonzert von TikTok gekauft hat, und einen von vier Plätzen im Aufsichtsrat besetzt.
  • 2021 - Der Chef von TikTok Deutschland sagt zu Vorwürfen über LGBTIQ-Zensur in der Zeit: „Da sind in der Vergangenheit Fehler passiert. Wir haben das auch kommuniziert und eine Menge Maßnahmen ergriffen, damit das nicht wieder geschieht.“
  • 2022 netzpolitik.org berichtet: TikTok ersetzt Begriffe wie „Arbeitslager“ oder „Umerziehungslager“ in automatisch erstellten Untertitel mit „****“
  • 2022 - tracking.exposed berichtet, dass im russischen TikTok alle ausländischen Beiträge entfernt wurden und organisierte prorussische Kriegspropaganda stattfinden kann.
  • 2022 - Die Tagesschau enthüllt, dass mindestens 19 Stichworte von „Nationalsozialismus“ bis „queer“ in Kommentaren dazu führen, das diese nicht angezeigt werden.

In beinahe all diesen Berichten betont TikTok, dass es unabhängig vom chinesischen Mutterkonzern Bytedance handle, dass es keine Beschränkung der Meinungsfreiheit gebe und Moderation stattfinde, um die User*innen zu schützen. Gleichzeitig werden auch oft technische Fehler in den Moderationssystemen erwähnt und Besserung versprochen.

Das Ungewisse

Die größten demokratiepolitischen Probleme mit Plattformen wie TikTok, Facebook oder Instagram könnten aber nach wie vor noch gar nicht bekannt sein. US-amerikanische Plattformen haben ähnliche Probleme mit Intransparenz, die sich aber im Ausmaß von denen auf TikTok unterscheiden. TikTok entschuldigt sich seit vielen Jahren in Stellungnahmen für diverse Fehler und gelobt Besserung, während laufend neue Vorwürfe dazu kommen und keine Besserung in Sicht ist. Die Intransparenz über die verwendeten Algorithmen macht ein Abschätzen des Ausmaßes der Beeinflussung unmöglich - was nicht angezeigt wird, kann man nicht sehen und was angezeigt wird, nicht überprüfen.

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