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Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in Butscha, wo viele ermordete Zivilist*innen gefunden wurden.

APA/AFP/RONALDO SCHEMIDT

interview

Welche Wirkung haben die Gewaltbilder aus dem Krieg?

Die Bilder der vielen toten Zivilist*innen aus dem ukrainischen Butscha, die weltweit verbreitet wurden, haben einen besonders tiefen Eindruck hinterlassen. Doch welche Auswirkungen haben diese Bilder? Der Medienwissenschaftler Christian Schicha versucht im FM4-Interview darauf Antworten zu geben.

Von Ali Cem Deniz

Seit Russland die Ukraine angegriffen hat, begleiten uns täglich Bilder aus dem Krieg. Zerstörte Gebäude, Geflüchtete, verletzte oder tote Menschen. Die Bilder, die am Wochenende viele in ihren Feeds oder in den Medien gesehen haben, waren besonders brutal. Nach dem Abzug der russischen Truppen aus dem ukrainischen Butscha wurden dort hunderte getötete Zivilist*innen entdeckt. Die Ukraine macht Russland für die Massaker verantwortlich. Moskau weist die Verantwortung zurück.

Wir haben mit dem Medienwissenschaftler Christian Schicha, Professor für Medienethik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg über die Bilder geredet, die uns lange Zeit im Gedächtnis bleiben werden.

Ali Cem Deniz: Wir haben diese Bilder jetzt gesehen, die ja schon eine neue Dimension haben, obwohl wir jetzt seit über einem Monat ständig von Bildern des Krieges begleitet werden. Welche Wirkung haben solche Bilder aus Butcha?

Christian Schicha: Nun, die Reaktionen waren ja doch sehr stark. Die deutschen Politiker beispielsweise haben sich ja voller Abscheu und Entsetzen geäußert. Das betrifft zum Beispiel Frau Bär aus dem Europäischen Parlament oder auch unseren Bundeskanzler, Herrn Scholz, wie auch andere internationale Politiker und Politikerinnen, beispielsweise der amerikanische Außenminister. Also das Ganze hat deshalb sicherlich eine neue Qualität, weil Menschen zu sehen sind, die gefesselt sind, die offensichtlich misshandelt, sogar hingerichtet worden sind. Und obwohl der Krieg ja ohnehin schon ein Zivilisationsbruch ist, gibt es auch da Regeln. Und die scheinen offensichtlich eklatant verletzt worden zu sein.

Denken Sie, dass diese Bilder so stark sind, dass Sie jetzt den Lauf des Krieges auch beeinflussen könnten?

Das wäre schön, wenn es so wäre. Wir hatten ja das Bild aus der New York Times, wo Opfer nach einem Bombenanschlag zu sehen waren, wo auch die Gesichter zu sehen waren. Da wurde ja auch gesagt, das ist ein Schlüsselbild, das gegebenenfalls die Dynamik des Krieges ändern wird. Meine Befürchtung ist, dass das nicht so sein wird.

Die Reaktion ist ja, dass jetzt noch mehr und verstärkte Sanktionen stattfinden sollen, aber ansonsten wird man - so traurig oder so tragisch das ist - sich ein Stück weit auch an diese Bilder gewöhnen.

Da sind wir auch schon bei den Medien. Wie sollen denn die mit solchen Bildern umgehen, können die mit diesen Bildern Druck erzeugen oder sollten sie einen sensiblen Umgang suchen?

Ein sensibler Umgang mit Opferbildern ist ohnehin sinnvoll. Der Deutsche Presserat hat sich hierzu noch mal dezidiert geäußert und darauf hingewiesen, dass es elementar wichtig ist. Ich habe mir gestern deutsche Nachrichten angeschaut. Da wurde darauf geachtet, dass keine Gesichter zu sehen sind und die Gesichter, die hätten gesehen werden können, wurden dann verpixelt. Das ist natürlich ein ganz wichtiges Instrumentarium, denn stellen Sie sich vor, Sie sehen tatsächlich Ihre verstorbenen Angehörigen gut identifizierbar über Fernsehbilder oder andere Kanäle. Das ist der absolute Horror. Insofern ist es wichtig, diese Bilder zu zeigen, um einfach das Grauen des Krieges zu dokumentieren und auch politische Reaktionen einzufordern. Aber es sollte auf jeden Fall immer darauf verzichtet werden, das Opfer identifizierbar sind.

Wie geht es Ihnen als Medienwissenschaftler/Medienethiker, wenn Sie solche Bilder sehen?

Ich denke, ich bin genauso erschüttert, wie alle anderen auch. Ich bin da weniger abgestumpft, auch wenn ich mich natürlich intensiv mit solchen Bildern beschäftige. Ich beschränke tatsächlich meine eigene Rezeption auch auf die traditionellen, klassischen, öffentlich-rechtlichen Medienkanäle, weil ich weiß, dass da behutsam, sorgfältig und sensibel mit solchen Bildern umgegangen wird. Ich weiß natürlich, dass solche Bilder im Netz auftauchen. Gelegentlich schaue ich mir sowas auch an, weil ich mich einfach damit auseinandersetzen muss.

Aber ich versuche natürlich, selber auch eine gewisse Distanz und einen gewissen Abstand zu wahren und würde mir solche Bilder zum Beispiel nicht kurz vorm Schlafengehen anschauen, weil das etwas mit einem macht. Weil man wie gesagt sensibel ist, da Empathie hat.

Also mich persönlich stumpft es überhaupt nicht ab, ganz im Gegenteil. Ich bin absolut erschüttert, egal wie oft ich solche Bilder schon mal gesehen habe. Aber ich kann allen anderen nur empfehlen, - natürlich sich zu informieren, sich damit zu beschäftigen, auch positives Handeln zu generieren, indem man den Menschen konkret hilft oder oder über Spenden Beiträge leistet, damit zumindest für die lebenden Menschen, die unter diesem Krieg leiden, einiges getan werden kann - aber ich kann niemandem empfehlen, sich Tag und Nacht nur mit diesen Bildern auseinanderzusetzen.

In den sozialen Medien schaut das anders aus, wie Sie auch gesagt haben. Welche Verantwortung tragen die sozialen Medien, wo man diese Bilder erstens in einer viel größeren Menge sieht, als in den klassischen Medien teilweise, und eben auch oft in einer sehr direkten Brutalität?

Die sozialen Medien gibt es nicht, so wie es die Medien auch nicht gibt, das sind immer Menschen, die sowas machen. Und wenn Menschen geschult sind, also den Beruf des Journalisten oder der Journalistin gelernt haben, dann sollten sie tatsächlich natürlich darauf vorbereitet werden, wie man mit solchen Dingen umgeht, welche Bilder man zeigt, welche Bilder man nicht zeigt oder verfremdet, welche Kriterien es gibt, um Bilder zu zeigen und was man auf jeden Fall vermeiden sollte.

Das Problem im Netz ist - so demokratisch ist und so positiv es zu bewerten ist, dass jeder von uns auch Sender und Empfänger sein kann -, dass Menschen eben oft nicht sensibel sind, vielleicht nicht unbedingt aus böser Absicht oder purem Voyeurismus sowas zeigen, sondern einfach nur, weil sie das Grauen mit anderen teilen möchten, ohne vielleicht zu reflektieren, welche möglichen Konsequenzen das für Menschen hat, die eben nicht in der Lage sind, solche Bilder vernünftig zu verarbeiten.

Wir dürfen auch nicht vergessen, dass auch viele Kinder und Jugendliche mit diesen Schreckensbildern in Berührung kommen. Die Bild-Zeitung von heute in Deutschland hat beispielsweise die Hand einer Toten gezeigt. Da kann man sagen das Gesicht war nicht zu erkennen, die Person war nicht zu identifizieren. Es ist aber auf jeden Fall ein Schockbild, was auf der ersten Seite einer Tageszeitung zu sehen ist, was jeder, jedes Kind, jeder Jugendliche sich dann auch erst mal angucken und dann auch verarbeiten muss. Also ich würde da doch für einen sehr stark zurückhaltenden Umgang mit solchen Bildern plädieren, ohne dass ich natürlich dafür plädieren würde, dass das Grauen nicht dokumentiert werden muss.

Das heißt, wir dürfen jetzt nicht nur von den Plattformen wie Facebook oder Twitter erwarten, dass sie das z.B. durch eine technische Lösung hinkriegen, dass es diese Bilder in der Form nicht gibt?

Das wäre schön, wenn Facebook und andere das so machen würden. Das Perverse ist natürlich ein Stück weit, dass die Schockbilder, die provokativen Bilder, die besonders brutalen Bilder eine hohe Reichweite erzeugen. Die generieren Klicks, das wird geteilt, das wird weiterverbreitet, also das Schockierende, das Perverse, das Böse, das Hässliche. Das hat genau wie Fake News oder Hate Speech natürlich eine hohe Resonanz. Und aus Sicht der kommerziellen Betreiber ist das natürlich wunderbar, wenn diese Links, diese Bilder, diese Informationen ein Stück weit geteilt werden.

Da ist Facebook, und da sind auch andere, durchaus ambitioniert, durch technische Lösungen etwas herauszufiltern. Teilweise sind Menschen daran beteiligt, die dann entscheiden, ob Bilder gezeigt oder nicht gezeigt werden. Aber aufgrund der Fülle des Materials ist das kaum zu bewerkstelligen, das vernünftig hinzukriegen. Das ist also letztendlich eine der größten Herausforderungen insgesamt, wie Bilder, die nicht gezeigt werden sollten, auch tatsächlich nicht gezeigt werden.

Mich erinnert das ja etwas auch an die Debatten über die Radikalisierung von Jugendlichen im Zusammenhang mit dem IS und dem syrischen Bürgerkrieg. Da haben ja auch sehr viele Jugendliche sehr viele gewalttätige Bilder von Ermordungen von Zivilist*innen und so weiter konsumiert. Jetzt passiert das auf einer ganz großen Ebene mit der Gesamtgesellschaft. Kann man da einen Vergleich anstellen?

Also ich bin da vorsichtig und zurückhaltend, man ist ja schnell auch dabei, dass man sagt, die Gesellschaft ist gespalten und die Menschen werden immer brutaler und gewalttätiger und die Jugend, das geht ja bis hin zur fiktionalen Computerspielen, würde komplett abgestumpft. Ich wage das zu bezweifeln. Ich bin ein großer Freund der These, dass es doch in erster Linie schon mündige Konsumenten, Konsumentinnen gibt, und das gilt auch für Rezipienten und Rezipientinnen, also dass die meisten schon in der Lage sind, zu unterscheiden, was ist real, was ist fiktional, was ist angemessen und was ist nicht angemessen?

Dass es natürlich Menschen gibt, die diese Grenzen nicht kennen oder Grenzen überschreiten und vielleicht auch Spaß haben, sich solche brutalen Dinge anzuschauen, das will ich ja überhaupt nicht bestreiten. Aber wenn man sich insgesamt beispielsweise auch die Kriminalitätsrate anschaut - es gibt ja durchaus Kolleginnen und Kollegen von mir, die behaupten, wer regelmäßig Ballerspiele spielt oder Hinrichtungsvideos anschaut, wird selber zum Mörder, Attentäter, Amokläufer oder was auch immer, das ist empirisch nicht belegt -, das ist nicht der Fall.

Also ich würde schon sagen, es ist wichtig, in reduzierter, in sensibler, in reflektierter und nachdenklicher Form das Grauen zu zeigen. Aber jetzt davon auszugehen, nur weil diese Bilder in der Welt sind, würde das dramatische gesellschaftliche Entwicklungen nach sich ziehen, das wage ich zu bezweifeln.

Wenn wir jetzt zum Schluss einen Ausblick wagen: Wie werden wir mit diesen Bildern umgehen? Werden die weiterhin auch ihre emotionale Stärke haben? Oder werden wir, so wie Sie das am Anfang gesagt haben, vielleicht doch irgendwann abstumpfen?

Ich befürchte, dass man ein Stück weit abstumpft. Es hat immer wieder Bilder gegeben, die im kollektiven Gedächtnis eingebrannt sind. Ich erinnere an das Bild 1970 aus dem Vietnamkrieg, wo Kim Phúc, dieses Mädchen, nach einem Napalmangriff nackt zu sehen war und gelitten hat. Das ist ein Bild, das einfach hängengeblieben ist. Denken Sie beispielsweise auch an das Bild von Aylan Kurdi, dem Jungen, der in Bodrum angeschwemmt worden ist, nachdem er seine Flucht nicht überlebt hat. Auch das ist ein Bild, das im kollektiven Gedächtnis hängen geblieben ist, wo es auch ähnliche Reaktionen gab von Politikern und Politikerinnen, dass Fluchtursachen gestoppt werden sollten, dass man mehr für die Betroffenen tun sollte.

Es wird immer wieder solche Schlüsselbilder geben und ich denke, die Bilder, über die wir jetzt sprechen, haben auch ein ähnliches Instrument in Bezug auf das, was von diesem Krieg hängen bleibt. Auch das Bild aus der New York Times. Es wird immer wieder vereinzelte Schlüsselbilder geben, die einfach zusätzlich schockieren, aber es kann auch sein, dass umso länger dieser Krieg dauert, umso mehr Bilder letztendlich auftauchen. Das ist eine Form von Abstumpfung, Reaktanz, also so Abscheu im Sinne von ich will das gar nicht mehr sehen, ich kann das nicht mehr ertragen, auch stattfindet. Das ist ein schmaler Grat. Aber wie gesagt, jeder und jeder reagiert anders und insofern bleibt abzuwarten, was noch kommt.

Kann man auch sagen, dass Russland ähnlich wie in Syrien auch ein bisschen darauf setzt, dass es irgendwann ein Desinteresse gibt oder eine eine Art Akzeptanz von dem als Realität, die eben nicht zu ändern ist?

Das war, glaube ich, die zarte Hoffnung, dass man im Grunde genommen die Ukraine mal schnell überrollt. Dass die anderen Nationen das mehr oder weniger schlucken, so wie beispielsweise die Eroberung der Krim ja auch geschluckt wurde, auch andere Menschenrechtsverletzungen, die es auch in Syrien gegeben hat. Diesmal reagiert ja die freie Welt erfreulicherweise anders. Es gibt Sanktionen, es gibt Widerstand, es gibt öffentliche Verlautbarungen. Es wird jetzt auch großer Wert darauf gelegt, dass diese Verbrechen dokumentiert werden, dass auch ausländische Berichterstatter Informationen sammeln, in der Hoffnung, dass zumindest langfristig, da auch juristisch gegen diese Kriegsverbrechen vorgegangen werden kann. Russland setzt vielleicht darauf, aber ich glaube, dass sich Russland insgesamt komplett verkalkuliert hat, weil der Krieg dauert viele, viele Wochen. Fast die gesamte Weltgemeinschaft ist sich einig, dass das zu sanktionieren ist. Und Russland ist zunehmend isoliert und insofern ist dieses Ziel sicherlich nicht erreicht worden.

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