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Diagonale Eröffnung

© Diagonale/Sebastian Reiser

International Teenage Drama „Sonne“

Bis Sonntag ist in Graz Diagonale: Schon sind viele Filmschaffende in der Stadt und bei der Österreich-Premiere von „Sonne“ gab es viel Applaus für „Superstar“ Kurdwin Ayub.

„SONNE"
"RIMINI"
"LUZIFER“
sind auf einem ziegelroten Plakat zugleich angekündigt: In Graz hängen die ersten Filmplakate in den Straßen und der international renommierte Filmemacher Ulrich Seidl hat als Produzent gleich drei Kino-Spielfilme auf der Diagonale 2022 am Start. Anlass genug zum Tanzen gestern Abend auf der Eröffnung der Diagonale in der Helmut-List-Halle in Graz, wo Katharina Seidler und Christian Pausch nach der bejubelten Österreich-Premiere von Kurdwin Ayubs Teenager-Drama „Sonne“ aufgelegt haben.

Die Diagonale, das Festival des österreichischen Films, läuft von 5. bis 10. April 2022 in Graz.

Die Intendanten der Diagonale, die Kurdwin Ayub als „Superstar“ aufriefen, hegen eine große Begeisterung für den Eröffnungsfilm: „Sonne“ sei eine Zäsur im österreichischen Film, sagen Peter Schernhuber und Sebastian Höglinger. Kurdwin Ayub hat ihren ersten Kino-Langspielfilm mit viel Improvisation und tollen Schauspieler*innen gemacht. Die Berlinale zeichnete „Sonne“ als bestes Debüt der Programmschiene „Encounters“ im Februar aus. Was in „Sonne“ vor sich geht, ist allen voran an der Mimik von Hauptdarstellerin Melina Benli abzulesen. Sie spielt Jesmin, eine Maturantin, die zwei beste Freundinnen hat, mit ihrem jüngeren Bruder streitet und Papas Liebling ist.

„Sonne“ ist ein Teenager-Drama, für das Kurdwin Ayub ihre Talente erneut bündelt: Gegenwärtig und rasant erzählt sie von jungen Menschen, von Familie und Gesellschaft in einer globalisierten Welt. Wien, das ist im Film ein Verweis auf den Lainzer Tiergarten, wo jugendlicher Frust in Tierquälerei umschlagen wird.

Im ersten Bild legt eine Freundin der anderen sanft eine Hand über den Hidschab; beide tragen die Kopfbedeckung. In einem Jugendzimmer drehen Wiener Teenager ein Video, in dem sie „Losing My Religion“ von R.E.M. interpretieren.

An dem Punkt steigt das Publikum in dieses Leben einer kurdischen Familie in Wien ein; am Ende wird schon fast wieder vergessen sein, dass man das Video eigentlich nie zu sehen bekommt. Weil es da schon keine Relevanz mehr hat, weil sich viel tut - nicht nur im Leben von Teenagern, auch wenn sie über weite Strecken viel plaudern und wenig sagen und ihre Vorstellung von einer guten Zeit haben wollen.

„’Sonne’ unterstreicht, dass man kulturelle Identitäten nicht überbewerten sollte, weil sie sich jederzeit ändern können. Und die Sehnsüchte dahinter nach dem schönen, glücklichen Leben für uns alle universell sind“, sagt Peter Schernhuber. „Und ‚Sonne‘ erzählt von einer Globalität, die zugleich der Provinzialisierung von rechts ebenso eine Absage erteilt wie der Kulturalisierung von links.“

Melina Benli in einer Szene des Spielfilms "Sonne" von Kurdwin Ayub.

Ulrich Seidl Filmproduktion

Melina Benli spielt wunderbar in „Sonne“.

In „Sonne“ tauchen viele gewichtige Themen kurz auf

"Sonne“ ist auch ein Film über eine Vater-Tochter-Beziehung. Dieser Vater gehört zu einer Generation von Männern, die für ihre Töchter ein anderes Leben wollen als die Rollen zu erfüllen, die ihre Frauen haben. Der Anspruch an die Tochter ist hoch: sie soll studieren, der Bub sich ein Vorbild an der großen Schwester nehmen. Als die Kinderzimmer-Produktion, das Video von „Losing My Religion“, auf YouTube landet, kommentiert der Papa mit Emojis und „sehr schön!“. Er ist es, der die Maturantinnen dann zu den Auftritten bei persischen und kurdischen Hochzeiten bringt, wo Jesmins Freundinnen junge Syrer kennenlernen. Eine der Stärken von „Sonne“ sind die Auslassungen in der Geschichte. Gewichtige Themen tauchen kurz in den Gesprächen auf. Es geht um Familienverhältnisse, Kriegserfahrungen und Retraumatisierung, Zusammenhalt und den Bruch einer Freundschaft, Zuschreibungen von außen und Versuche der Selbstbehauptung, auch um jugendliche Naivität und verschwundene Schülerinnen. Bei all dem zeigt „Sonne“ auch, wie anstrengend Teenagerleben in ständigen Auseinandersetzungen mit Freunden und auch den Eltern sind, samt Beschimpfungen. Ungezählte Male nennt jemand andere „behindert“, die Alltagssprache geizt mit liebevollen Worten.

Social Media Content im Hochformat fügt sich dank Roland Stöttingers Schnittarbeit geschmeidig ein. Die Perspektive ist fast durchgehend eng, auf die Menschen beschränkt. Der Film könnte überall in Europa spielen. Zwei Mädchenfinger halten die titelgebende „Sonne“ für einen zauberhaften Moment fest.

Im Herbst kommt „Sonne“ regulär in die österreichischen Kinos. Gestern Abend war der Film zeitgleich mit der Diagonale-Eröffnung in Programmkinos in anderen Städten zu sehen.

Diagonale-Eröffnung

© Diagonale/Sebastian Reiser

„Kunst und Kultur nicht mit Politik gleichsetzen“

In Graz plädierten die Diagonale-Intendanten gestern Abend dafür, Kunst und Kultur nicht mit Politik gleichzusetzen, zumindest nicht, „wenn uns noch etwas an einer freien Gesellschaft gelegen ist“. Die Diagonale ist in ihren ersten 25 Jahren in Graz stets ein Ort der Kontroverse und der Widersprüche gewesen, betonten sie. „Zwischen der gerade jetzt wieder lauter erhobenen Aufforderung, Kunst müsse politisch sein, und der Feststellung, dass Kunst immer politisch ist, besteht ein grundlegender Unterschied: Es ist nicht dasselbe, ob sich die politischen und gesellschaftlichen Umstände in einen Film einschreiben und in ihm bemerkbar machen, oder aber, ob ein Film bereits auf eine bestimmte politische Message hin formuliert ist. Solche Message-Kunst nannten wir die längste Zeit Propaganda."

Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine wird am Eröffnungsabend nicht ausgeblendet. Catrin Bolts Sechsminüter „Odessa“ von 2011 läuft am Samstag im historischen Special „Rausch“ auf der Diagonale und zeigt die berühmte Potemkinsche Treppe. Blättert man durch das Diagonale-Programm, so kann man sich Juri Rechinskys Doku „Signs of War“ anstreichen, mit der er den Fotojournalisten Pierre Crom porträtiert.

Diagonale-Eröffnung

© Diagonale/Sebastian Reiser

Branko Samarovski gewürdigt

Die Diagonale verleiht auch die höchstdotierten Filmpreise Österreichs. Bis Sonntag sind 113 Filme in den Festivalkinos zu sehen. Und ein großer Schauspieler ist gestern Abend ausgezeichnet worden: Branko Samarovski, Burgschauspieler und Flüchtlingskind, hat den Großen Diagonale-Schauspielpreis und eine Maske von Künstler Constantin Luser bekommen. Samarovski sprach eindrucksvoll davon, wie lange er damit gerungen hat, dass ihm seine eigene Biografie als zu wenig für das Theaterspielen erschienen war. Doch die Anerkennung von außen kann er jetzt etwas leichter annehmen. Menschen, die ihn zufällig irgendwo treffen, kommen auf ihn zu und danken ihm für seine Darstellungen.

FM4 Homebase Spezial zur Diagonale 2022

Was macht der österreichische Film, was fehlt dem österreichischen Film und was sollte man auf der Diagonale 2022 auf keinen Fall verpassen? In der Homebase kommen die Festivaldirektoren Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber ebenso zu Wort wie Ulrich Seidl, dessen neuer Film „Rimini“ auf der Diagonale läuft. Außerdem die jungen Filmemacherinnen Marie Luise Lehner und Elena Wolff. Mit Wolff und Lehner hat Christian Pausch über Humor und Körperbilder im österreichischen Film gesprochen. Maria Motter wirft einen Blick auf das vielseitige Werk des Regie-Duos Tizza Covi und Rainer Frimmel und Christian Fuchs nimmt uns mit in die Einsamkeit der Berge und zeigt den Horror, der dort in „Luzifer“ wartet. Und weil sich das historische Special der Diagonale dem Thema „Rausch“ widmet, begibt sich Pia Reiser auf eine Spurensuche in Sachen Exzess und Kater im österreichischen Film.
Am Mittwoch, 6.4.2022 ab 19 Uhr.

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