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Der Hype um Wet Leg

Holllie Fernando

Das Debütalbum von Wet Leg

Nach dem Hype kommt das Debüt. Wet Leg lassen auf ihrem ersten Album die Gitarren krachen und sind doch ganz Kinder ihrer Zeit.

Von Christian Lehner

Das Wort Hype ist ein Relikt aus einer anderen Ära. Damals, also in den 1990er Jahren, wurden vermutlich noch mehr Gitarren verkauft als Mobiltelefone. Mit jeder Printausgabe des NME-Magazins erfolgte auf der Titelseite die Ausrufung einer neuen „besten Band aller Zeiten“. Dies und jenseits des Atlantiks drängten Alternative Rock, Manchester Rave, Grunge, Brit-Pop und Schrammel-Indie in die Charts. Pöbelnde Lads und nonkonformistische Riot Grrrls wurden zu Role-Models, Celebrities und Fashion Icons. Bevor der Absturz kam, feierte mit Tony Blair sogar ein britischer Premier die „Champagne Supernova“.

Der Hype um die Gitarren sollte sich in den Nullerjahren mit der verpoppten Rückkehr des Post-Punk und Garage-Rocks noch einmal wiederholen. Die dafür notwendigen Medienkanäle wurden allerdings bereits vom Internet umspült und die Wucht eine konzentrierten Jubelaktion lies von nun an merklich nach.

Pop macht wieder Spaß

Wet Leg und ihr Debütalbum "Wet Leg"

Domino Rec

Und heute? Vermutlich wird selbst in den gut informierten Pubs der britischen Inseln der Name Wet Leg zwischen zwei Guinness mit einem Schulterzucken zur Kenntnis genommen. Brilliant! Aber kennen muss man die nicht. Und doch trägt seit Wochen und Monaten eine kräftige Brise die frohe Botschaft dieses Duos von der beschaulichen Isle of Wight im Süden Englands hinaus in die Welt.

Noch vor einem Jahr hätten Sängerin Rhian Teasdale und Gitarristin Hester Chambers über ihr eigenes Popmärchen gelacht, und sie lachen gern. Zu diesem Zeitpunkt gab es Wet Leg zwar bereits, aber niemand wusste davon. Dann kam der Sommer und mit dem Sommer der Instant-Hit „Chaise Longue“. Und dann kam der Hype.

Nach den ernsthaften, experimentellen und leicht sarkastischen Ansätzen des aktuellen Post-Punk-Revivals im UK, das vom FM4-Schwestersender BBC 6 mitangestoßen wurde und Bands wie Black Midi, Squid, Goat Girl, Black Country New Road, Fontaines DC und Dry Cleaning einer breiteren Pop-Öffentlichkeit vorstellte, durfte man mit Wet Leg wieder lachen, tanzen und Dada-Nonsense in die Welt hinausschreien. Das war offensichtlich genau das, was der Pandemie-gebeutelte Pop in diesen unseren Katastrophenzeiten brauchte.

Die große Frage

Kurz nach der Veröffentlichung der zweiten Single „Wet Dream“ und kurz vor dem großen Hype-Sturm, konnten wir uns noch (leider tontechnisch unzureichend) mit Hester Chambers via Video-Chat unterhalten. Dann wurden Wet Leg von einer Riesenwelle davongetragen und bleiben trotz dutzender Versuche für diesen kleinen Radiosender vorerst unerreichbar.

„Now everything is going wrong
I think I changed my mind again
I’m not sure if this is a song“ - Too Late Now

Seither haben Wet Leg für Domino Records ein Album aufgenommen, das von dem Jungstar-Produzenten Dan Carey (u.a. Kae Tempest, Grimes, Fontaines D.C.) und Altstar-Legende Alan Moulder (u.a. The Cure, Smashing Pumpkins, Nine Inch Nails) abgemischt wurde. Rhian und Hester springen von Late Night Show zu Podcast-Interview zu Zeitungsportrait. Sie haben einen Partnerschafts-Deal mit Spotify abgeschlossen. Und sie befinden sich fast das ganze Jahr über auf Welttour (die sie leider nicht nach Österreich, aber gleich zwei Mal ausgedehnt nach Deutschland führen wird).

Der Hype um Wet Leg

Hollie Fernando

Rhian Teasdale und Hester Chambers sind Wet Leg

Die große Frage lautet nun, ob Wet Leg mit ihrem Debüt den Erwartungshaltungen gerecht werden? Allein diese Frage scheint unfair, da Rhian und Hester mit diesem anachronistischen Hype allein auf weiter Flur sind. Die Antwort lautet dennoch und eindeutig: Yes, they can!

Auf die bisher ausgekoppelten Single-Hits „Chaise Longue“, „Wet Dream“ und „Angelica“ folgen noch mehr Instant-Hits wie „Being in Love“ oder „Ur Mom“. Letzter ist so eine Art Botschafterin für das gesamte Album. Es ist ein Break-Up-Song wie so viele auf dem titellosen Debüt, einfach deshalb, weil Songschreiberin Rhian während der Entstehung des Albums durch ein unschönes Beziehungsaus gegangen ist.

We definitely don’t take any shit! - Hester Chambers

Diese Beziehungsnummern sind trotzdem voller Witz und auch so manch expliziter Anzüglichkeit. Und sie machen Spaß. Fun als Schutzschild und Speer. Wet Leg rechnen mit Ex-Partnern ab, und zwar auf eine Art und Weise, wie man das eher von Cardi B gewohnt ist, wie man in „Ur Mum“ bei Minute 02:45 hören kann.

30 Jahre Indie-Rock

Die Musik mag vom Sound her klingen wie ein Best-Of-Indie-Rock der vergangenen 30 Jahre. Doch die Art und Weise, wie Wet Leg mit den Herausforderungen unserer Zeit umgehen, ist von einer ungewöhnlich rotzigen Attitude befeuert. Sonst werden Frauen im Gewerbe der schrammelnden und gezupften Gitarren ja immer noch erst dann ernst genommen, wenn sie möglichst dramatisch oder sinnlich an den Umständen leiden. „We definitely don’t take any shit“, wie es Hester Chambers im FM4-Interview so prägnant zusammenfasste.

Wet Leg schöpfen dabei nicht aus dem Fundus feministischer Kampfparolen. In dem Song „Oh No“ macht sich Rhian sogar über ihre etwas zu woke Freundin lustig, was aber nicht bedeutet, dass man deren Positionen ablehnt. Für Wet Leg sind sie so selbstverständlich, dass sie auch für einen Joke gut sind. Es geht um persönlichen Mist und nicht um das Geschlecht.

Erstaunlich auch, wo Wet Leg ihre Mitsing-Refrains und Mitstampf-Riffs herzaubern. Das Debüt-Album ist ein Sack voller Hits über die Zumutungen des Aufwachsens im 21. Jahrhundert. Man schaut aufs Handy, man regt sich darüber auf. Man schaut in den Spiegel, man regt sich darüber auf, man macht Party und kann sich am nächsten Tag an nichts mehr erinnern, oder man geht nicht auf die Party und fühlt sich genau deswegen so richtig mies. War eigentlich eh schon immer so. Bloß, es wurde schon lange nicht mehr so herzhaft in den Äther geplärrt.

Es gibt nicht nur schöne Songs, sondern auch schöne Songtitel wie „Wet Dream“, „Supermarket“ und „Piece Of Shit“.

„Wet Leg“, das Debütalbum von „Wet Leg“, macht verdammt viel Spaß. Und das in einer Zeit, die Spaß nur sehr sparsam verteilt. Am Cover sieht man Rhian und Hester von hinten, wie sie sich umarmen. Man wünscht den beiden, dass sie diese Innigkeit und Freundschaft behalten und dass sie der aktuelle Hype nicht zerreißen möge - ein Hype, der im Fall von Weg Let vollkommen gerechtfertigt ist.

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