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Filmstills aus "Rimini" von Ulrich Seidl

Ulrich Seidl Filmproduktion

Diagonale, Popcorn und Partys

Widersprüche auszuhalten, ist immer eine Herausforderung. Die Gewinner*innen der Diagonale sind renommierte Regisseur*innen. Doch zu sehen gab es viel mehr als „Rimini“ und die liebevolle Hommage „Alice Schwarzer“. Publikum und Filmschaffende haben den österreichischen Film auf der Diagonale 2022 gefeiert: Mit Popcorn und Partys.

Von Maria Motter

„Rimini“ ist der bisher zärtlichste Film von Ulrich Seidl, findet FM4-Filmkritiker Christian Fuchs. Ulrich Seidl musste zum Dreh nach Rimini angereiste Schauspieler erst wieder heimschicken, denn er wollte Nebel in Außenbildern an der Adria und ausgerechnet der Herbstnebel ließ auf sich warten. Im Zentrum des Films steht der Schlagersänger Richie Bravo (Michael Thomas), der seine Erbauungslieder selbst bitter brauchen kann. Die Songs für „Rimini“ stammen von Herwig Zamernik, auch bekannt als Fuzzman, und Fritz Ostermayer. „Rimini“ ist für die Jury der beste Spielfilm der Diagonale 2022 und wird mit dem Großen Diagonale-Preis ausgezeichnet.

„Ich bin nicht an diesen Film herangegangen mit dem Vorsatz, jetzt will ich ein bisschen zärtlicher sein als in der Vergangenheit, sondern das hat sich so ergeben. Der Richie Bravo als Filmfigur ist nicht der strahlende Held, aber er ist ein Mensch mit sehr vielen Abgründen und Eigenschaften, die vielleicht nicht jeder Zuschauer für gut befindet“, sagt Ulrich Seidl im FM4-Interview.

Schauspieler Michael Thomas und Publikum nach der Galapremiere von "Rimini" auf der Diagonale in Graz.

Diagonale/Clara Wildberger

Schauspieler Michael Thomas nach der Galapremiere von Ulrich Seidls „Rimini“.

Mancher Zuschauer hat sich nach der Gala-Premiere in der Helmut-List-Halle gefragt, wie er „Rimini“ einordnen würde, wenn nicht Ulrich Seidl dabeistünde. Der renommierte Regisseur und Produzent kam nur für ein kurzes Hallo mit Team nach vorne. Die Premiere war ausverkauft, wie sehr viele der Vorführungen auf der Diagonale. Es war sehr schön anzuschauen: Das Publikum und Filmschaffende haben den österreichischen Film wieder gefeiert – in den Kinos mit Applaus, nach den ungezählten Premieren und auf Partys.

Schauspielpreis für Julia Windischbauer in „Para:Dies“

Einen beachtlichen Erfolg hat Elena Wolff mit ihrem Spielfilmdebüt „Para:Dies“ gefeiert. In der queeren Beziehungsgeschichte spielt sie mit Julia Windischbauer, die den Film auch produziert hat. „Para:Dies“ ist eine Doku-Fiktion: Ein junges Paar lässt sich von einer Kamera begleiten, gemeinsam und dann auch allein.

Julia Windischbauer und Elena Wolff auf einem Feld im Salzburger Land im Sommer, Szene aus "Para:Dies".

Para:Dies/Vivian Bausch

FM4 präsentierte die Vorführungen von „Para:Dies“ auf der Diagonale: Produzentin Julia Windischbauer und Filmemacher*in Elena Wolff spielten die Beziehungsgeschichte auch.

Die Dialoge in „Para:Dies“ drehen sich um Vorstellungen, wie Beziehungen sein könnten oder sollten. Es geht um Gefühle, Scham und Wünsche. So lebens- und hautnah sei der Film, lobte eine Zuschauer*in nach der Premiere. „Das war für mich der Plot-Twist des Jahres und hat mich überrascht wie nichts anderes“, stellt jemand im Publikum fest. „Ich finde, man gibt einer Figur am meisten Würde, indem man ihr Humor gibt oder die Möglichkeit, lustig zu sein, oder dass man sich mit ihr auf diese Weise verbinden kann. Und das hat mir sehr oft gefehlt bei weiblich gelesenen Figuren auf der Bühne oder auch in Filmen“, sagt Elena Wolff im FM4-Interview. Julia Windischbauer ist für ihre Rolle in „Para:Dies“ mit dem Diagonale-Schauspielpreis ausgezeichnet worden, ebenso wie Georg Friedrich für „Große Freiheit“, die auch im Wettbewerb der Diagonale war.

Diagonale: Festivalpublikum abends vor einem Kino in Graz.

Diagonale/Sebastian Reiser

Sabine Derflingers liebevolle Annährung an Alice Schwarzer

Erstaunlich zahm ist Sabine Derflingers Doku „Alice Schwarzer“, die jetzt mit dem großen Diagonale-Preis ausgezeichnet ist. Es ist eine liebevolle Annäherung an die Publizistin und einflussreichste lebende Feministin im deutschsprachigen Raum. Dafür ist allerdings Vorwissen des Publikums erforderlich. Einer der großen Verdienste von Alice Schwarzer sei, dass sie den Feminismus in den Mainstream gebracht hat, sagt Regisseurin Sabine Derflinger beim Filmgespräch im Annenhof-Kino in Graz.

Alice Schwarzer

Cristina Perincioli

Das Archivmaterial im Film bringt Schwarzers Standpunkte in ihrem eigenen Witz auf den Punkt. Die Archivrecherche war umfassend. Die Szenenauswahl war dann auch von den Kosten für die Verwertungsrechte abhängig. Die neu gedrehten Begegnungen mit Alice Schwarzer zeigen sie kurz in Paris, in Algier und bei der Arbeit in der Redaktion der 1977 gegründeten Frauenzeitschrift „EMMA“. Heute bezeichnet sich die „EMMA“ als „Magazin für Menschen“.

Eine der besten Szenen ist den Privataufnahmen von Bettina Flitner, der Fotografin und Lebensgefährtin Schwarzers, zu verdanken: Alice Schwarzer schminkt sich und spricht über Projektion von außen und sich. Es ist ein Make-up Tutorial, wie es heute junge, kluge Social-Media-Nutzerinnen posten. Es erinnert an ein Posting, in dem eine junge Frau beginnt mit Schminktipps und wenig später sagt: Jetzt, wo die Männer weggeklickt haben: Lasst uns zusammenkommen und protestieren.

Ja, TERF die das, ist aktuell eine oft gestellte Frage auf Social-Media-Bühnen, die in der Doku wohl aus den zeitlichen Gründen der Fertigstellung kein Thema ist. Alice Schwarzers aktuelle Aussagen erregen wieder die Gemüter, auch Sibylle Berg äußert sich dazu und bestätigt gleich selbst mit ihrer Kolumne deren Inhalt.

Oh „Luzifer“

Regisseur Peter Brunner mit Hündchen in Graz

Diagonale/Sebastian Reiser

Peter Brunner bescherte mit „Luzifer“ Was-hab-ich-grad-gesehen-Momente

Die Alm erscheint in diesen Frühlingstagen voll Krisen als ein perfekter Sehnsuchtsort in der Fantasie (bis man mit vielen anderen vor einem Kino steht und den Trubel sofort wieder liebt). Darum trifft Adrian Goigingers neuer Spielfilm „Märzengrund“ einen Nerv unserer Zeit, da er großteils hoch droben über dem Trubel spielt. Fische fangen als Beruhigung. Schwieriger gestaltet sich das mit den Drohnen in Peter Brunners „Luzifer“. Die haben ein Bergdomizil im Visier, das sich als eigene Hölle offenbaren wird.

Franz Rogowski füttert einen Adler mit Frischfleisch und spielt in „Luzifer“ einen jungen Mann mit dem geistigen Vermögen eines Kleinkindes, der in einem schlimmen Abhängigkeitsverhältnis zur Mutter auf der Alm haust. Rogowski hat mit zehn Tieren eines Falkners zehn Monate hindurch für den Film trainiert. Die Greifvögel kreischen in unangenehm hohen Tönen - der Preis für das beste Sounddesign Spielfilm geht an Manuel Grandpierre -, Drohnen bedrohen diese Kaspar-Hauser-Figur. Spoiler: Peter Brunner hat einen Muttermord in den Alpen inszeniert. Womit sich Menschen ihre Zeit vertreiben, ist doch immer wieder faszinierend. Auch wenn „Luzifer“ einigen wenigen Zuschauer*innen zu viel wurde, ist es schwer, den Blick abzuwenden von diesem Versuch, ein Gleichnis für vieles zu schaffen.

„Große Freiheit“ mit Franz Rogowski und Georg Friedrich bekommt auf der Diagonale insgesamt die meisten Preise: für Schauspiel, außergewöhnliche Produktionsleistung, Bildgestaltung und den Thomas-Pluch-Hauptpreis für das beste Drehbuch.

In „Luzifer“ brilliert Franz Rogowski erneut. Der Mann ist einfach in jeder seiner bisherigen Rollen glaubwürdig. Die Hauptdarstellerin Susanne Jensen ist keine gelernte Schauspielerin, hat aber dafür mehr Lebenserfahrung, als sie je haben wollte. Die Missbrauchsüberlebende gibt in „Luzifer“ eine Frau, die ihren eigenen Glauben aus einer Mischung von Bibelstudium und bizarren Ritualen gegen ihren frühere Alkoholabhängigkeit lebt. Per Videoschaltung ist sie im KIZ RoyalKino für ein Gespräch dabei. „Franz und ich sind drei Stunden herumgeirrt, wir waren an der Marienstatue und haben euch plötzlich nicht mehr gehört. Das war irre“, erinnert sich Susanne Jensen an einen Moment der Vorbereitung im Gebirge.

Michi Ostrowskis Schmäh

Michael Ostrowski vor dem Rechbauer-Kino in Graz auf der Diagonale 2022.

Maria Motter

„Du musst bei einer Komödie eine Atmosphäre schaffen, die alles beinhaltet und die alle Schauspieler, aber auch die Crew mitreißt und die vermittelt, das ist gut, was wir da machen. Es muss abheben“, weiß Michi Ostrowski. Mit Helmut Köpping hat er das Drehbuch für „The Hawk/Der Onkel“ geschrieben und Regie geführt. Auch eine Doppelrolle hat er sich verordnet. „Weißt, einfach das richtige Timing. Verstehst? Timing ist alles. Du hast sehr liebe Augen, Jasmin“, ist ein Zitat aus der Dramedy mit Anke Engelke, Hilde Dalik, Gerhard Polt und den Kindern Ostrowskis, die sehr gut spielen. Der oft naiv zweideutige Humor wird von den Blicken der Darsteller*innen konterkariert. Komödie ist die Königsdisziplin im Unterhaltungsfilm und seit den großen Hits der 1990er Jahre im österreichischen Film von „Muttertag“ bis „Hinterholz 8“ ein noch größeres Wagnis. Anke Engelke war leider nicht in Graz.

Ein Apparat und sein Gewicht

Eine Konstante ist das Werk von Constantin Wulff. Der Regisseur hat auch einmal die Diagonale geleitet und mit Co-Intendantin Christine Dollhofer – sie hat das augenöffnende Festival „Crossing Europe“ begründet – die Kinosäle geöffnet, als der Andrang zu Vorführungen riesig war. Die Diagonale ist jetzt 25 Jahre in Graz zuhause. Sie ist ein großes Glück und hält die Festivalkultur in der zweitgrößten Stadt Österreichs am Pulsieren.

Gerald Igor Hauzenberger vor Kinoschaufenster auf der Diagonale in Graz.

Diagonale/Sebastian Reiser

Igor Hauzenberger

Aufregung hat es diesmal um wenige Minuten nach der zweiten Vorführung von Igor Hauzenbergers neuer, aufwühlender Doku „Denn sie wissen, was sie tun“ gegeben, die sich drei Männern widmet, die bei den sogenannten „Corona-Demos“ in den Straßen anzutreffen sind. Dass mit Alexander Ehrlich ein Protagonist nicht nur im Film, sondern vor Ort im Saal war, wollten einige Aktivist*innen nicht hinnehmen.

Der ehemalige Busfahrer Alexander Ehrlich kam allerdings nicht dazu, auszuholen, denn er wurde vom Publikum kritisch befragt. Igor Hauzenberger bezeichnet Ehrlich als konservativen Christen, ein Faschist sei Ehrlich nicht. Die Diagonale hat ein Statement verfasst. Es bleibt die Frage, inwieweit man als Zuschauer*in gewillt ist, sich mit Protagonist*innen von Dokumentarfilmen auseinanderzusetzen. Im Film widerspricht Hauzenberger Ehrlich.

Wie bewahrt man sich denn den Respekt vor Menschen, von denen man annimmt, dass sie einem selbst keinen entgegenbringen, habe ich Igor Hauzenberger gefragt. „Schwierig. Für mich war es wichtig, einen aufgeschlossenen Dialog zu haben. Das heißt, ich darf alle Fragen stellen, und ich muss den fertigen Film nicht zeigen, bevor er veröffentlicht wird. Ich würde nicht mit rechtsradikalen Gewalttätern einen Film machen. Aber Demokratie muss es einfach aushalten, dass es unterschiedliche Positionen gibt und so lange das im Verfassungsbogen bleibt, ist der Protest auch gerechtfertigt. Das muss Demokratie aushalten.“

Zehn Jahre hat Igor Hauzenberger Protestkultur in Österreich beobachtet. Seine Filme wie „Der Prozess“ über die Tierschützer*innen und „Last Shelter“ über das Protestcamp von Geflüchteten, die 2013 die Wiener Votivkirche besetzt hatten, weiten die Perspektive. Einer der Geflüchteten, der zuvor Teil linker Protestbewegung war und an der Akademie der Bildenden Künste studiert hat, ist jetzt in „Denn sie wissen, was sie tun“, wieder zu sehen. Igor Hauzenberger dreht seine nächste Doku in der Sahara.

Viel Eindrucksvolles war im Programm der Diagonale, u. a. Jola Wieczorek schöner Schwarzweiß-Film „Stories From The Sea“ und Samira Ghahremanis Doku „Good Life Deal“ über einen österreichischen Expat in Thailand.

Wie faszinierend ist bitte die Arbeiterkammer

Constantin Wulff ist dem Direct Cinema verpflichtet: Er ist auch einer der Beobachter, der seinem Publikum zutraut, sich selbst ein Bild zu machen.

„Für die Vielen – die Arbeiterkammer Wien“ ist ein klassisch gemachtes Porträt einer Institution und ein Must-See. Über 100 Jahre besteht der Apparat der Arbeiterkammer und diese Doku ist in ihrer Unaufgeregtheit, in allem Zurücknehmen des Regisseurs, von enormer Relevanz und Brisanz. Auch der Unterhaltungswert ist groß. „Für die Vielen – die Arbeiterkammer Wien“ ist keine Elendschau, es ist der Status Quo. Um überhaupt für ihre Arbeit Geld zu bekommen, müssen viele Menschen sich nach wie vor behaupten. Eine Beraterin der Arbeiterkammer sagt einer Hilfesuchenden, sie könne sich die Vollmacht natürlich noch in Ruhe durchlesen. Die Frau greift ohne Zögern zum Kuli. Das ist eines der vielen Details, die hier aus der Gegenwart, von der Arbeitswelt im 21. Jahrhundert erzählen. „Das ist ja wurscht, ob der Arbeitgeber zornig wird oder nicht“, sagt eine Mitarbeiterin am Empfang einer Putzfrau, die fürchtet, Arbeit und Wohnung zu verlieren. „Es gibt das Recht.“

Szene aus der Doku "Für die Vielen - Die Arbeiterkammer Wien": Berater der Arbeiterkammer Wien und Gebärdensprache-Dolmetscherin.

Navigator Film

„Für die Vielen – die Arbeiterkammer Wien“

In einer anderen Szene, die im Parlament aufgenommen wurde, putzt der frühere Finanzminister Gernot Blümel sein Smartphone penibel mit einem Reinigungstuch. Da hat die Corona-Pandemie bereits das Land erreicht und das Modell der Kurzarbeit – in der Finanzkrise 2008 erstmals für 66.000 Menschen umgesetzt – wird erneut zum temporären Anker. Constantin Wulffs Doku hatte auf der Berlinale Premiere und wurde dort vom internationalen Publikum mit Staunen verfolgt. Für die beste künstlerische Montage einer Doku wird Dieter Pichler auf der Diagonale 2022 ausgezeichnet.

Die Hiobsbotschaft am Diagonale-Wochenende

Zuschauer mit Popcorn.

Diagonale/Sebastian Reiser

„Egal, wo ich auf der Welt bis jetzt gearbeitet habe oder wo i’ war: Alle schlecken sich alle zehn Finger nach dem österreichischen Film ab: Über die Geschichten, die wir erzählen und auch die Art, wie wir sie erzählen“, sagt Verena Altenberger in Graz. Doch es gibt eine Hiobsbotschaft am Diagonale-Wochenende: Die Fördermittel des Filmstandort Austria, einer der zentralen Säulen des österreichischen Films, sind für das Jahr schon erschöpft. Einer der Gründe ist, dass Dreharbeiten aufgrund der unsicheren Pandemie-Lage im Herbst 2021 auf 2022 verschoben wurden.

Die Diagonale ist eine Plattform für österreichischen Film. Auch der Fachverband der Film- und Musikwirtschaft hat sie genutzt. Und so ist Verena Altenberger nicht nur bei der Vorführung von „Märzengrund“ im Kino, sondern auch auf einem Podium: Sie ist Präsidentin der Akademie des Österreichischen Films.

„Der österreichische Film hat so eine starke Besonderheit, das ist wirklich eine Weltmarke. Und jetzt wird aus dem eigenen Land heraus diese Weltmarke bedroht, weil einfach kein Geld mehr da ist“, warnt Verena Altenberger. Gewünscht ist eine Aufstockung der FISA-Fördermittel. Die Anfrage, wie das Wirtschaftsministerium die Lage sieht, geht Montagfrüh raus.

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