FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Xavier Naidoo

Youtube Screenshot

Die Anatomie des Apology Videos

Licht, Kamera, Action! Jedem gesellschaftlich sanktionierten Vergehen muss nach der Einsicht ein Video folgen, in dem Popstar oder Berühmtheit X sich in aller Form entschuldigt. So lautet eins der ungeschriebenen Social-Media-Naturgesetze. Das Apology Video ist in seiner Entstehung nicht erratisch – es weist immer genretypische Merkmale auf.

Von Aischa Sane

Der Mannheimer Soul- und RnB-Sänger Xavier Naidoo hat wahrscheinlich eine der schönsten Stimmen Deutschlands – und eine Vorliebe für Esoterik und menschenverachtende Verschwörungserzählungen.
In den letzten zwei Jahrzehnten fiel er öffentlich immer wieder wegen antisemitischer, rassistischer, homophober Äußerungen und seiner Nähe zu rechtsextremen Ideologien und Akteuren auf. Deshalb vertrat er Deutschland schon 2015 nicht beim Eurovision Song Contest und wurde 2020 aus der DSDS-Jury verbannt. Anfang 2020 veröffentlichte er ein bizarres Video, in dem er unter Tränen QAnon-Verschwörungsmythen betätigt. Wenig später negierte er in einem weiteren Video die Existenz der COVID-19-Pandemie. Dies markierte den Beginn seines Aufstiegs zu dem Gesicht der deutschsprachigen QAnon- und Querdenker-Bewegung.

Gestern erschien auf all seinen Kanälen dann ein neues Video:

Dabei handelt es sich nicht um einen weiteren Crashkurs zu gängigen Verschwörungstheorien, sondern um eine Entschuldigung. Darin erklärt er, der Krieg in der Ukraine habe ihn wachgerüttelt. Er habe sich anlässlich der Realität des russischen Angriffskriegs auch mit seinen eigenen Ansichten und Aussagen kritisch auseinandersetzen müssen und realisiert, dass diese verstörend und verletzend waren. Er sei als Mensch immer auf der Suche nach Wahrheit und habe sich verrannt. Nun distanziert er sich von allen Extremen, vor allem von rechten und verschwörerischen Gruppen. Zuletzt stünde er immer für Toleranz, Vielfalt und ein friedliches Miteinander.

Abseits der inhaltlichen Pfeiler ist das Video professionell und genrekonform ausproduziert. Der Protagonist ist in Wahrheit nicht Xavier selbst, sondern die Couch, von der aus er seinen Entschuldigungstext vom Teleprompter abliest. Das Setting ist in jedem Apology Video das A und O. Es muss familiär und nahbar wirken, aber nicht zu inszeniert. In der Causa funktioniert das mäßig gut, aber besser als gewohnt.

Der Skandal und das Canceln

Jede Entschuldigung, egal in welcher Form, setzt einen Fehltritt voraus. Personen des öffentlichen Lebens müssen je nach Popularität und Bekanntheit in Folge einen Aufschrei in den Medien und Sozialen Netzwerken über sich ergehen lassen. Eventuell wird als Antwort darauf ein Versuch der Rechtfertigung unternommen, oder auch ein Sich-Weiter-In-Die-Misere-Reiten. Oft schaut dieser Versuch konkret wie der Screenshot einer digitalen Notiz aus. Besonders stilvoll abgetippt wird der Versuch der Selbstläuterung zumeist in der Notes App. Vielleicht vergeht dann einiges an Zeit, in der Regel aber nicht. Schlussendlich tritt eine zeitgenössische Gattung des Internetvideos in Erscheinung: die Entschuldigung auf Band.

Zur Gattung und Dramaturgie

Die Entstehung der aufgezeichneten Entschuldigung ist in den frühen 2010er Jahren und auf der Plattform YouTube – wo sonst - zu verorten. Das reumütige Subjekt in einem Entschuldigungsvideo ist in aller Häufigkeit ein YouTube Native. Ob Jake Paul, Laura Lee, James Charles oder PewDiePie – schon einige YouTube-Größen mussten sich vor einem Millionenpublikum ihren Fehltritten stellen – mit mäßigem Erfolg.

Laut einer Studie der Ohio State University besteht eine effektive Entschuldigung aus sechs Komponenten:

  • Es muss Bedauern ausgedrückt werden.
  • Es muss identifiziert und benannt werden, was genau nicht in Ordnung war.
  • Es muss die eigene Verantwortung erkannt und betont werden.
  • Es muss Reue gezeigt werden.
  • Es muss eine Wiedergutmachung angeboten werden.
  • Es muss um Vergebung gebeten werden.

Bezeichnend für das durchschnittliche Apology Video ist, dass in aller Regel höchstens zwei oder drei dieser Komponenten auftauchen. Dafür finden sich in den meisten Apology Videos andere wiederkehrende Elemente, mit denen das Publikum und Betroffene kaum etwas anfangen können. Immerhin bestehen aber stilistische Kontinuitäten, an denen sich orientiert werden kann.

In der gängigen YouTube-Entschuldigung dürfen Technik und Dramaturgie nicht dem Zufall überlassen werden. Einen nahbaren Vibe zu schaffen, hat höchste Priorität. Das soll am besten gelingen, wenn legere Kleidung getragen und – im Reich der sich entschuldigenden Make-Up-Gurus - wenig bis kein Make-Up aufgetragen wird. Als beste Location eignet sich das eigene Zuhause – oder, wenn es spontan sein muss, auch mal ein Hotelzimmer. Ideal ist natürliches Licht und auch in der Postproduktion wird weiterhin auf Minimalismus gesetzt. Eine musikalische Untermalung oder zu viele Cuts wären ein No-Go. Für den Upload werden knappe Titel gewählt, beispielsweise „#OneLove“ oder „So Sorry.“. Die Abrundung bildet bei manch einem Kanal die Monetarisierung: wie ernst es mit der Entschuldigung ist, wird deutlich, wenn zu Beginn und Ende des Videos Werbung geschaltet wird.

Mindestens genauso bedeutend ist aber die emotionale Manipulation. Gespielte Reue und unter höchster Anstrengung und Konzentration ausgequetschte Tränen sind in dieser Gattung häufig zu erblicken. Je nach Apology Video wird auch tatsächlich mal Bedauern über das eigene Fehlverhalten bekundet, wenngleich dabei selten benannt wird, was genau vorgefallen ist. Dafür gibt es Versuche der Rechtfertigung – im Übermaß. Eine goldene Regel ist außerdem: Verantwortung wird übernommen, indem sie bei Mittäter*innen platziert wird. Und voilà: die stilgerechte Entschuldigung auf Video.

Jake Paul

Youtube Screenshot

Die Conclusio: Wiedergutmachung geschieht nicht auf YouTube

Das Apology Video eignet sich wahrscheinlich herrlich zur Beruhigung des eigenen Gewissens (und des der PR-Manager*innen im Hintergrund) aber im Grunde bleibt es nicht viel mehr als eine Inszenierung. Höchstens kann es der öffentliche Auftakt zu einer Rehabilitation sein. Aber auch die Adressat*innen können nur so ernsthaft und aufrichtig mit einer Entschuldigung interagieren, wie sie geäußert wurde. Ob ein solch konstruktiver Austausch unter so aufgeblasenen und unernsten Bedingungen, wie sie in den Sozialen Medien existieren, stattfinden kann?

Sicher ist in jedem Fall, dass Xavier Naidoo zukünftig ernsthafte Versuche der Wiedergutmachung unternehmen kann. Nicht nur verbal, sondern indem er die rechtsextremen, antisemitischen, rassistischen und homophoben Strukturen und Akteure, mit denen er so vertraut ist, benennt und aufdeckt. Und ein für alle Mal hinter sich lässt. Ob die Betroffenen seine Entschuldigung annehmen möchten, egal ob heute oder dann, muss ihnen überlassen sein. Das ist fast das Wichtigste an einer ehrlichen Entschuldigung.

mehr Aischa Sane:

Aktuell: