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„Les Olympiades“ und das Kino des Jacques Audiard

Der französische Meisterregisseur Jacques Audiard wird heute 70. Pünktlich dazu erscheint sein neuer Film „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ in österreichischen Kinos. Eine kleine Verbeugung vor einem großen Menschen- und Männerkenner.

Von Christian Fuchs

Filmische Episodenwerke, die in der einzigartigen Metropole Paris angesiedelt sind, das kennt man. Immer geht es darin auch um amouröse Affären und Verwicklungen. Schließlich beschwören Regisseure spätestens seit den sechziger Jahren gerne das Klischee von der „Stadt der Liebe“. Jetzt hat auch Frankreichs Meisterregisseur Jacques Audiard einen Paris-Film gedreht, in dem die Hormone verrückt spielen.

Les Olympiades, Paris 13e“ heißt dieser Streifen im Original, nach dem Stadtteil, in dem die Storys spielen. Die Kamera schwebt zu Dubstep-Sounds durch die Hochhausviertel des 13. Arrondissements, folgt zunächst der jungen Emilie (Lucie Zhang), die aus einer taiwanesischen Familie kommt, durch Alltag und Nachtleben. Parallel wird die Geschichte von Camille (Makita Samba) erzählt, einem Afro-Pariser mit Lehrerjob und charmanten Flirt-Taktiken.

Die beiden begegnen sich als Emilie einen Mitbewohner sucht, haben Sex, trennen sich, suchen neue Abenteuer, auch der Film wendet sich einer anderen Konstellation zu. Eine zurückhaltende Jus-Studentin (Noémie Merlant) wird mit einer Online-Pornodiva (die Sängerin Jehnny Beth) verwechselt und ist geschockt. Auch Nora lernt den Casanova Camille kennen, „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ wird zu einem Reigen aus Sex und einer Suche nach Liebe.

Bittersüße Momente, gefälliger Tonfall

Es geht um Apps á la Tinder, um Moral und Freiheit, Drogen und Lebensplanungen. Die gediegene Schwarzweiß-Fotografie lässt die zahlreichen Couch- und Schlafzimmer-Szenen enorm ästhetisch wirken, der Electro-Score flirrt dahin, die multikulturelle Besetzung besteht aus ausnehmend schönen Menschen.

Nur eines stellt sich bei „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ niemals ein: Das ganz spezielle Jacques-Audiard-Gefühl. Die Filme des 70-jährigen Franzosen wühlen auf, gehen unter die Haut – und hinterfragen kritisch konventionelle Männerbilder. Für „Les Olympiades“, die Adaption eines Comics, hat sich Audiard sogar die großartige Céline Sciamma („Portrait einer jungen Frau in Flammen“) als feministische Co-Autorin geholt.

Aber das geniale Duo erfüllt mit diesem Episodenfilm, der oft an der Oberfläche bleibt, nicht die hohen Erwartungen. Einige bittersüße Momente mögen zwar in der Erinnerung haften bleiben. Aber der gefällige Tonfall passt zu einem französischen Gegenwartskino, von dem sich Jacques Audiard immer abgrenzte. Wer dagegen eine geballte Intensität im Kino sucht, sollte sich an einige Vorgängerfilme des Regisseurs halten.

Filmstill aus "Les Olympiades"

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Berauschend: „Der wilde Schlag meines Herzens“, 2005

Dieses frühe Meisterwerk von Jacques Audiard hat was von einem filmischen Adrenalinstoß. Dabei verlässt sich „De battre mon coeur s’est arrêté“ nicht auf übertrieben schnelle Schnitte oder visuellen Firlefanz. Es ist einzig die rastlose Energie der Hauptfigur, die den Film manisch antreibt.

Tom (Romain Duris) ist ein Pariser Endzwanziger, der sein Geld mit zwielichtigen und gewalttätigen Jobs verdient. Aber der aggressive Antiheld hat auch andere Seiten. Durch die zufällige Begegnung mit einem Konzertagenten erwacht Toms Leidenschaft für das Klavierspiel wieder. Gemeinsam mit einer chinesischen Musikstudentin beginnt der Immobilienhai intensiv zu üben.

„Der wilde Schlag meines Herzens“, das Remake eines amerikanischen Thrillers, spielt zwar mit Elementen des harten Genrekinos. Aber Jacques Audiard zeigt lieber die Chronologie einer Verwandlung. Tom erfährt durch zwei selbstbewusste Frauen, dass es eine Alternative zur dumpfen Machismowelt gibt, in der er sich bewegt. Und die Musik, unter anderem von „The Kills“, hilft ihm bei seinem Ausbruch. Ein Film, der wie ein Rauschmittel wirkt.

Preisgekrönt: „Ein Prophet“, 2009

Die männlichen Protagonisten in Jacques Audiards Filmen sind Gefangene, eingekerkert in Geschlechterklischees, in ihre triste Umgebung oder auch ganz wortwörtlich in einem Hochsicherheitstrakt. „Un prophète“, sein außerordentliches Gefängnisdrama, ist zurecht vielfach preisgekrönt.

Der Film erzählt die Geschichte eines jungen Arabers, der wegen eines kleineren Vergehens zu sechs Jahren Haft verurteilt wird. Ein extrem introvertierter Bursche ist dieser Malik (Tahar Rahim), ein gutaussehender Analphabet, der in der Häfenhierarchie schnell zum Freiwild für diverse brutale Cliquen wird.

Was sich nach rauem Sozialschocker anhört, ist viel mehr. „Ein Prophet“ studiert ethnische Spannungen, analysiert beklemmende Gruppendynamiken. Und dann gibt es kurze geisterhafte Augenblicke, die dem Film eine metaphysische Ebene verleihen. Vor allem: Malik lernt, beobachtet, überlegt. Er versucht sich, inmitten von Blut, Gewalt und Testosteron-Hölle, eine bestimme Sensibilität, eine Menschlichkeit, sogar eine Zärtlichkeit zu bewahren.

Aufwühlend: „Der Geschmack von Rost und Knochen“, 2012

Sehr sehenswert ist auch Jacques Audiards Migranten-Drama „Dheepan“ oder sein höchst origineller Antiwestern „The Sisters Brothers“, in dem Joaquin Phoenix und John C. Reilly als mörderisch-patschertes Brüderpaar begeistern. Der Autor dieser Zeilen verehrt aber einen bestimmten Audiard-Film auf besonders sentimentale Weise.

De rouille et d’os“ zeigt einen Badeort an der Côte d’Azur als Ort der Tristesse. Zumindest für Alain (Matthias Schoenaerts), einen arbeitslosen Ex-Boxer, der kaum seinen fünfjährigen Sohn ernähren kann. Als Türsteher eines Nachtclubs wirft er ein Auge auf die charismatische Stéphanie (Marion Cotillard), die seine Annäherungen zunächst nicht erwidert. Dann schlägt das Leben zu, typisch für die Filme von Audiard.

Stéphanie, die in einem Ozeanpark riesige Killerwale trainiert, erleidet einen Unfall. Die Leinwand verdunkelt sich, im Spital wacht sie ohne Beine auf. Wie die beiden Figuren zusammenkommen und grausam erneut auseinandergerissen werden, das ist pures Audiard’sches Körperkino. Aber der Regisseur glaubt auch an die Hoffnung. Und so bleiben einem als Zuseher*in am Ende dieser Symphonie aus Bildern, Tönen, Fleisch und Blut nur Freudentränen.

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