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Matthias Schmuckerschlag liest mit seinem Assistenten Martin eine Zeitschrift

FM4/Ali Cem Deniz

Selbstbestimmtes Leben zwischen Freiheit und Verantwortung

Matthias Schmuckerschlag hat eine Sehbehinderung. Sein Persönlicher Assistent Martin unterstützt ihn im Alltag, damit er selbstbestimmt leben kann. Ein Job und eine Beziehung mit vielen komplexen Facetten.

Von Ali Cem Deniz

Grelle Farben, appetiterregende Bilder, aufwändige Verpackungen, Marketingsprüche. All das hat keinen Effekt auf Matthias Schmuckerschlag. Er hat eine Sehbehinderung und hört zunehmend schlecht. Wenn er mit seinem persönlichen Assistenten Martin einkaufen geht, läuft das anders ab, als bei den meisten Menschen. Martin hilft Matthias die Produkte zu finden, die er sucht. Er beschreibt sie, liest ihm laut Marken und Inhaltstoffe vor.

„Linsenchips mit 30 Prozent weniger Fett“, sagt Martin.

„Was heißt 30 Prozent weniger Fett? Da gibt es eh kein Original dazu“, antwortet Matthias.

Beim Blick auf das Kleingedruckte stellt Martin fest: Die Chips haben weniger Fett als herkömmliche Chips. So zumindest die Behauptung. Sie schmunzeln über den offensichtlichen Marketingtrick und stellen die Chips zurück ins Regal.

Barrieren und Bezahl-Apps

„Ich schaue, dass jemand genau arbeitet, weil ich selbst etwas detailverliebt bin“, sagt Matthias auf die Frage, was er sich von einem Persönlichen Assistenten erwartet. Er lebt seit fünf Jahren mit Persönlicher Assistenz. Seine Assistent*innen unterstützen ihn bei Einkäufen, Erledigungen im Haushalt oder in der Freizeit. Im Supermarkt muss Assistent Martin mit ihm nicht nur die Einkaufsliste abarbeiten, sondern auch darauf achten, dass Matthias auf keine Barrieren stößt.

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Ein ganz normaler Alltag durch Persönliche Assistenz

Früher war es selbstverständlich, dass Menschen mit Behinderung in eigenen Einrichtungen untergebracht wurden - auch wenn sie eigentlich mit etwas Unterstützung gut zuhause zurecht kämen. Seit einiger Zeit ändert sich das: durch Persönliche Assistenz gestalten behinderte Menschen ihren Alltag selbst und nehmen am gesellschaftlichen Leben teil.

Der Supermarkt in der Nähe von Matthias’ Wohnung ist für ihn ein Extrembeispiel. Die engen Korridore sind voll mit Sonderangebots-Körben und Paletten. Kund*innen und Mitarbeiter*innen flitzen unachtsam durch die Gegend. Von den Regalen ragen Werbe- und Rabattschilder hervor, auf dem Boden ist eine Packung Ayran ausgeronnen. Alles Hindernisse, die den Einkauf für Matthias schwierig oder gar gefährlich machen könnten.

Als sie dann an der Kassa ankommen, holt Matthias sein Smartphone heraus, um zu zahlen. Er bedient das Handy mithilfe von haptischen und akustischen Feedbacks. Die Bezahl-App kennt er sehr gut. Denn neben seinem Slawistik-Masterstudium testet er für eine Bank Apps auf Barrierefreiheit und Bedienbarkeit.

Umstieg auf persönliche Assistenz

Auf das Angebot der Persönlichen Assistenz hatte ihn ein Freund aufmerksam gemacht. Davor hat ihn hauptsächlich sein Vater unterstützt. Als der Vater beruflich für ein Jahr ins Ausland musste, war es für Matthias der richtige Zeitpunkt, um mit Persönlicher Assistenz mehr Selbstbestimmung zu wagen.

Der größte Unterschied zwischen professioneller Persönlicher Assistenz und der Unterstützung durch die Familie ist, dass Matthias selber entscheiden kann, wann er wie und was machen möchten. Ohne Kompromisse und ohne unnötige Diskussionen. „Wenn mir am halben Weg einfällt, dass ich etwas vergessen habe und wieder zurückmuss, ärgert mich das eh selbst. Aber ich kriege nicht auch noch eins auf den Deckel von jemanden, der mich jetzt begleiten muss.“

Matthias Schmuckerschlag in seiner Wohnung

FM4/Ali Cem Deniz

Sein Assistent Martin ist da, um genau das Gegenteil zu machen. Er sieht und hört für Matthias, aber er entscheidet nicht für ihn. Und er urteilt auch nicht über seine Entscheidungen. „Die Idee von der Assistenz ist, Selbstbestimmung zurückzugewinnen. Und in extremeren Fällen ist es so, dass der Assistenznehmer überhaupt erst die Erfahrung macht, dass er tatsächlich bestimmt und was das bedeutet“, sagt Martin.

Selbstbestimmung und Selbstbewusstsein

In betreuten Tagesstrukturen ist häufig der ganze Alltag von Menschen mit Behinderungen durchgeplant. Wann sie essen, wann sie duschen oder wann sie schlafen gehen. Matthias hat zwar nie in einer Einrichtung gelebt, trotzdem war auch für ihn das Leben mit Persönlicher Assistenz eine Umstellung. Das hat ihm nicht nur Handlungsräume eröffnet, sondern war in bestimmen Momenten auch herausfordernd, wie er offen zugibt.

Heute lebt Matthias allein. Das bedeutet auch, dass er Dinge selbstständig entscheiden muss, die ihm eigentlich nicht so liegen. Wenn es etwa um die Einrichtung der Zimmer geht, oder wenn er seine Zeit einteilen muss. „Dass einem da einer keine Tipps geben will, auch wenn man das gerne möchte, weil es eben der Assistent ist und nicht ein Elternteil, finde ich das bis heute spannend. Weil ich das eigentlich nie so musste“, sagt Matthias.

Trotzdem und gerade deswegen will er nicht in sein altes Leben zurück, denn die Persönliche Assistenz hat nicht nur seine Selbstbestimmung, sondern auch sein Selbstbewusstsein gestärkt: „So nett es mit den Eltern ist, muss man doch oft Kompromisse eingehen und hat quasi nicht die Fäden in der Hand. Aus heutiger Sicht war die Persönliche Assistenz ein Riesen-Boost.“

FM4 Auf Laut zum Inklusions-Schwerpunkt

Am 03. Mai ist Inklusions-Schwerpunkt auf FM4. In FM4 Auf Laut von 21-22 Uhr bei Claus Pirschner kommen Menschen mit Behinderungen zu Wort, die über ihr Leben mit Persönlicher Assistenz sprechen.

Wir freuen uns, wenn ihr anruft, mitdiskutiert und mit uns eure Geschichten teilt. Die Nummer ins Studio ist 0800 226 996.!!!

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