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Arcade Fire

Maria José Govea

„WE“ - Das neue Album von Arcade Fire

Arcade Fire besinnen sich all ihrer Stärken und legen ihr bestes Album seit Bandgründung vor. Eine melancholische Abhandlung über das Ich und das Wir.

Von Susi Ondrušová

Das in Montreal gegründete und in New Orleans ansässige Husband/Wife-Bandprojekt hat 2004 mit seinem Debütalbum eine Blaupause für intelligenten, verspielten, hochemotionalen Indie-Rock geschaffen. Das Kollektive, das „Wir“ war immer ein hörbarer und sichtbarer Teil von Arcade Fire, wenn sie als 6-oder 8-köpfige Band-Armee den gesamten Bühnenplatz vereinnahmen oder überhaupt das Konzert mit einer Wanderung durch den Publikumsraum beginnen.

Auf ihrem neuen, sechsten Album „WE“ widmen sich Arcade Fire diesem Wir. Und besingen die komplexen Ichs der Gegenwart und Vergangenheit. Wir haben eine Pandemie erlebt, wir haben ein Kind gezeugt, wir haben Fragen, wir haben Angst, wir haben Erinnerungen, wir haben einen Newsletter.

Arcade Fire

Maria José Govea

Das neue Arcade Fire Album „WE“ hat vielleicht „nur“ sieben Songs, aber es ist deswegen noch lange kein kurzes Album. Es ist sogar so lang, dass man die Lieder im Titel durchnummerieren muss. Bei Arcade Fire erinnert diese theatralische Nummerierung der Songs an ihr erstes Album „Funeral“ und genau dort sind Win Butler und Régine Chassagne mit „WE“ angekommen.

Sie besinnen sich all ihrer Stärken und legen ihr bestes Album seit Bandgründung vor. Ein Album wie ein Buch, wie ein Theaterstück, keine Ausreißer, keine fragwürdigen Albumfüller für die die „next“ Taste am Abspielgerät erfunden wurde. „WE“ ist ein Herz-Album. Der Kopf, das Konzept kommt an zweiter Stelle. Wir können in erster Linie wieder laut mitsingen.

Dringliche Botschaften existieren auf „WE“ natürlich trotzdem, die ersten Zeilen des Albums lauten nicht umsonst „it’s the age of doubt“.

Wer noch in Plattenformat denkt (und Arcade Fire tun es) wird auf Seite 1 von „WE“ mit drei Songs konfrontiert, die sich grob gesprochen um das Thema „Isolation“ drehen. Die ersten zwei Songs heißen auch gleich „Age Of Anxiety I+II“. Mit Anxiety/Angst wird gleich das Nummer-1-Wort der Pandemie besungen. Age Of Anxiety I beginnt als Klavier-Streicher-Ballade und wird zu einer kleinen Disco-Pop-Nummer. Das Highlight ist hier: ein rhythmisches Atmen. Zehn Ideen in einen einzigen Song verpacken, ohne dass der Song dabei konzeptuell überladen wirkt, das ist eine ihrer Stärken, die Arcade Fire auf diesem Album so hervorragend umsetzen.

Arcade Fire

Maria José Govea

Eine Steigerung in Richtung Dancefloor (oder Space Ship) gibt es dann mit „Age Of Anxiety II“. Mit dem Zusatztitel Rabbit Hole zeigen Arcade Fire, dass die Angst ihre Fantasie nicht erstarren hat lassen. Allein schon auf „rabbit hole“ die simple Assoziation „plastic soul“ folgen zu lassen, reicht als Wiedergutmachung dafür, dass Arcade Fire auf dem Vorgänger-Album „Everything Now“ mit „You and me, we´ve got chemistry“ ihren lyrischen Tiefpunkt der Langeweile erreicht hat. Wie gesagt: Füllersätze und Füllermelodien gibt es keine auf „WE“.

An ihr großes Vorbild David Bowie erinnern die Songs „Age Of Empire I-III“ und „Age Of Empire IV (Sagittarius A*)“ als ob sie hier einfach ihre ganze Band-Diskographie und Bowie-Inspiration in 8 Minuten verpackt hätten, inklusive weirden field recordings von etwas das klingt wie ein Flugzeug oder ein Gasherd. Oder eine sich zurückspulende Filmkassette? Man weiß es nicht. Vielleicht weiß es sowieso nur Nigel Godrich (der Radiohead Produzent hat gemeinsam mit Arcade Fire „WE“ produziert).

Auch das gehört zu den besten Momenten von Arcade Fire: Ein Song, der auch als Lagerfeuer-Version funktionieren könnte (und wird) aber bei jedem Mal Anhören entdeckt man ein weiteres kleines Sound-Detail das einen Staunen lässt.

Hat man das „Ich“ auf Seite Eins nach vier Songs hinter sich gelassen, geht auf Seite 2 eindeutig die Sonne auf. Seite Zwei des neuen Albums bringt die Song-Dramolette „The Lightning I + II“, „Unconditional I + II“ und den Titelsong „We“. Hier schließen sich die verlorenen, herumtreibenden Ichs zu einem Wir zusammen. Es geht um zwischenmenschliche Beziehungen: „WE can make it if you don’t quit on me“

Arcade Fire

Maria José Govea

Dass Win Butler und Régine Chassagne nun auch schon das Ü-40 Alter erreicht haben daran erinnert nicht nur die Zeile “I unsubscribe this ain’t no way of life” in „Age Of Empire IV (Sagittarius A*)“.

„Why is he still so mad at the internet?” fragt Pitchfork in Richtung Win Butler, dessen DJ-Name übrigens Windows98 ist. Mit „Unconditional I (Lookout Kid)“ scheinen die beiden auch einen Song über das Erwachsenwerden geschrieben zu haben. Ein Song, den man auch als liebevollen Brief an ihren Sohn lesen könnte. Aber bitte: Arcade Fire sind auch unsere Eltern. Wir, die in den 00er Jahren auf den Tanzflächen des B72 oder Weekender-Clubs groß geworden sind. Für uns ist dieser Titelsong „WE“, für uns singt Butler über die akustischen Gitarren-Akkorde die Zeilen: „I wanna get wild. I wanna get free.“

Mit „WE“ sind Arcade Fire wieder bereit, die späten Auftrittsslots auf Festivals zu belegen, weil sie nun endlich wieder ein Album haben auf dem Platz ist für Singchöre und Freudentränen. „when everything ends can WE do it again?“

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