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Portrait von Wortlautjurorin Nicole Seifert

Zita Bereuter/FM4

FM4 Bücherei

FM4 Bücherei mit Nicole Seifert

Wortlautjurorin und Autorin Nicole Seifert liest seit Jahren fast nur Literatur von Frauen, bloggt darüber und hat das Buch „Frauenliteratur - Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt“ geschrieben. In der FM4 Bücherei empfiehlt sie drei Bücher, die ihr wichtig sind - natürlich von Frauen. Und erzählt auch über Mütter in der Literatur.

Von Zita Bereuter

Nicole Seifert ist noch ein Kind, als sie anfängt, jedes gelesene Buch zu notieren. Eine Tradition, die sie von ihrem Vater übernommen hat. Anfangs wie er in einem Ringbuch, später dann digital in einer Word-Datei. „Je älter man wird, desto nützlicher ist das, mal nachgucken zu können. Was von dem habe ich jetzt wirklich gelesen? Oder wie oft habe ich eigentlich ‚Die Glasglocke‘ gelesen?“ Als Kind besucht sie oft die Dorfbücherei. Dann ziehen sie um und es zieht sie mehr zum Buchregal ihres Vaters und in Buchhandlungen. Was bleibt, ist die Liebe zur Literatur. Nicole Seifert studiert und promoviert in Literaturwissenschaft, schreibt und übersetzt Bücher und arbeitet viele Jahre als Lektorin.

Buchcover

Kiepenheuer & Witsch

Nicole Seifert: „Frauenliteratur - Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt", Kiepenheuer & Witsch

2018 will sie als Ausgleich zum Übersetzen einen eigenen Blog über Literatur schreiben. „Ich wollte aber nichts machen, was es schon tausendmal gibt, also Bücher, die schon überall besprochen werden. Als ich anfing, wieder drauf zu achten, verstärkt auch Kritiken zu lesen, fiel mir auf, dass Autorinnen da unterrepräsentiert sind und zu kurz kommen. Da dachte ich: Dann ist das doch sinnvoll, wenn ich da einen Schwerpunkt drauf lege zum Ausgleich.“

Also liest sie einige Jahre lang bewusst nur Literatur von Frauen und schreibt darüber auf ihrem Blog Nacht und Tag oder auch auf instagram.com/nachtundtag.blog.

Die Erkenntnisse aus diesem Lesen - etwa warum weniger Bücher von Frauen verlegt, gelesen und kritisiert werden oder warum sie auch anders kritisiert werden, oder wie sich das weibliche Schreiben auszeichnet - hat sie in dem Buch "Frauenliteratur - Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt" zusammengefasst. Darin stellt sie Zusammenhänge her, macht deutlich und verständlich und klärt etliche Vorurteile auf.

verschiedene FM4 Büchereiausweise

Zita Bereuter

Die FM4 Bücherei ist keine herkömmliche Bücherei, in der man Bücher ausleiht, sondern eine, in der Bücher vorgestellt werden.

Der oder die Besucher*in der FM4 Bücherei stellt seine oder ihre drei Lieblingsbücher vor bzw. Bücher, die man lesen sollte.

Nicole Seifert besucht sie am Sonntag, 8. Mai (Muttertag), von 16 bis 17 Uhr.

Auch für 7 Tage im FM4 Player.

Schreibende Mütter

Am Muttertag ist es naheliegend, auch über schreibende Mütter zu reden. In ihrem Sachbuch „Frauenliteratur - Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt“ erwähnt Nicole Seifert auch den Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, der generell nicht viel von schreibenden Frauen hielt und schon gar nicht, wenn diese Kinder hätten. Verbunden war die Annahme, sie hätten dann nichts Interessantes mitzuteilen. Darauf soll an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden.

Tatsächlich ist es für schreibende Mütter nicht einfach, weiß Nicole Seifert aus der Recherche für ihr Buch.

„Man braucht ja Ruhe im Kopf und auch einfach tatsächlich Ruhe, um überhaupt ein Buch konzipieren und entwickeln zu können und um es dann auch zu schreiben und zu überarbeiten. Das heißt, man braucht schon Stunden am Stück, wo man weiß, man ist ungestört. Das haben viele Frauen mit kleinen Kindern erst mal lange Zeit nicht.“

Nicole Seifert weiß, wovon sie spricht, auch sie selbst war jahrelang Alleinerzieherin. Vollzeit zu arbeiten war damals - vor 15 Jahren - für sie nicht möglich.

Regretting Motherhood

In den letzten Jahren wurde vermehrt über „Regretting Motherhood“ geschrieben, also darüber, das Muttersein zu bereuen. Ein wichtiges Thema, meint Nicole Seifert, denn das habe das Tabu deutlich gemacht, dass Reue und Mutterschaft nicht zusammen gedacht werden dürfen. „Das ist wirklich ein Tabu. In dieser Studie sind Frauen zu Wort gekommen, die gesagt haben ’Ich liebe meine Kinder, aber diese Rolle und das, was die von mir verlangt, diese Aufopferung nicht nur für die Kinder, sondern diese gesellschaftliche Aufopferung, das möchte ich nicht, das ist nichts für mich. Das weiß man eben vorher nicht unbedingt. Da sehe ich schon, dass das seit einigen Jahren sehr vermehrt Autorinnen thematisieren und nachvollziehbar machen und darstellen, wie das kommen kann und wie das ist.“

Der klare Appell von Nicole Seifert: „Diese Bücher sollen auch von Männern gelesen werden.“

Wortlaut

Nach wie vor liest Nicole Seifert gern und viel, beruflich wie privat. Wobei die Trennung wichtig sei. „Ich versuche mir das zu erhalten, dass ich auch Dinge lese, über die ich bestimmt nichts schreiben muss.“ Heuer ist sie Jurorin bei Wortlaut, dem FM4 Kurzgeschichtenwettbewerb. Auf dieses Lesen freut sie sich besonders.

An Kurzgeschichten schätzt sie, wenn die „irgendwas Neues an sich haben“. Egal ob Inhalt, Form, Perspektive oder Erzählbogen. „Dass man das Gefühl hat, das kannte ich jetzt so noch nicht.“

In der FM4 Bücherei empfiehlt Nicole Seifert drei Bücher, die in verschiedenen Jahrzehnten in ihrem Leben wichtig waren.

Büchereikarteikarte von Nicole Seifert

Seifert/Bereuter

Buchcover: Sylvia Plath: Die Glasglocke übersetzt von Reinhard Kaiser, Suhrkamp Verlag; Sarah Moss: Schlaflos übersetzt von Nicole Seifert, Mare Verlag; Mary Beard: Frauen & Macht, übersetzt von Ursula Blank-Sangmeister, S. Fischer Verlag

FM4/SuhrkampVerlag/Mare Verlag/S. Fischer Verlag

Sylvia Plath: Die Glasglocke übersetzt von Reinhard Kaiser, Suhrkamp Verlag; Sarah Moss: Schlaflos übersetzt von Nicole Seifert, Mare Verlag; Mary Beard: Frauen & Macht, übersetzt von Ursula Blank-Sangmeister, S. Fischer Verlag

Sylvia Plath: Die Glasglocke

"Sylvia Plath war US-Amerikanerin, die zwischenzeitlich in London gelebt hat. Sie lebte von 1932 bis 1962, da hat sie sich das Leben genommen. Sie hat sehr viel Lyrik geschrieben und Erzählungen und diesen einen Roman. Der ist sehr autobiographisch.

Da geht es um eine Studentin, die ein Praktikum bei einer Zeitschrift in Manhattan macht in den Fünfzigerjahren - was Sylvia Plath auch gemacht hat -, die sehr hadert mit den Rollen, die ihr das Leben als Frau anbietet. Es wird schon von ihr erwartet - und das möchte sie auch - beruflich was zu erreichen und was zu leisten und die Beste zu sein und Stipendien zu gewinnen und so, aber letztlich, um dann doch in die Familie und an den Herd zurückzugehen und Mutter und Ehefrau und Hausfrau zu sein. Damit hat sie sehr gehadert und dann unter Depressionen gelitten. Das wird alles im Buch erzählt und es kommt auch ein Selbstmordversuch vor.

Mich hat damals besonders betroffen: Man hat theoretisch so viele Möglichkeiten im Leben. Also sich überhaupt für einen Beruf entscheiden zu müssen, obwohl es so viele Möglichkeiten gibt. Sie hat da dieses Bild des Baums: Man sitzt in der Astgabel und verhungert, weil man sich zwischen all diesen Möglichkeiten nicht entscheiden kann. Theoretisch könnte man ja auch mit einem guten Schulabschluss Ärztin werden und all das schließt man aus, wenn man sich für einen Weg entscheidet.

Ich habe ihre Briefe und Tagebücher als nächstes gelesen, wo es sehr um diesen Zwiespalt geht, für seine Kinder da sein zu wollen, aber auch ein intellektueller Mensch zu sein und geistig arbeiten zu wollen, wofür man Ruhe braucht, und auch seinem Mann eine gute, auch durchaus unterstützende Partnerin sein zu wollen. Dass das alles eigentlich nicht geht. Ich weiß nicht, wie genau, ob ich das damals wirklich schon verstanden habe, weil ich eigentlich lange geglaubt habe, dass das geht.

Ich habe „Die Glasglocke" dreimal gelesen, so zwischen 15 und 28, und hatte sie seitdem über 20 Jahre nicht gelesen. Das wollte ich nachholen und habe das im letzten Jahr gemacht. Was mir da aufgefallen ist: Zum einen ist da sehr klar das Leben der Frau in der patriarchalen Gesellschaft, also diese Abwertung, die einem auch überall begegnet. Das hatte ich, glaube ich, bisher noch gar nicht so verstanden. Was man aber leider auch sagen muss, und das ist doch ein ziemlicher Wermutstropfen, dass die rassistischen Stereotype, die damals gang und gäbe waren, auch drin sind. Das schmerzt etwas. Ich möchte den Roman nicht missen, aber das ist unangenehm.“

Sarah Moss: Schlaflos

"Da muss ich gleich dazu sagen: Den habe ich aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt, vor ungefähr zehn Jahren. Das ist eine britische Autorin, die hier leider noch gar nicht so richtig bekannt ist. Das ist erzählt aus der Perspektive der Frau und Mutter und es geht um ihre Familie, die auf eine fiktive schottische Insel reist, die menschenleer ist. Die reisen dahin, weil ihr Mann eine Papageientaucherpopulation beobachten muss. Und sie hat sich vorgenommen, mit ihrem älteren, achtjährigen Sohn, Homeschooling zu machen und hat aber auch noch ihren zweijährigen dabei. Eigentlich möchte sie auch an ihrem eigenen, wissenschaftlichen Buch über Kindheit im 18. Jahrhundert weiterarbeiten. An all diesen Ansprüchen scheitert sie krachend.

Schon allein am Haushalt - auf einer Insel, auf der es keine Läden und so gibt, wo man, wenn schon wieder die Windeln und die Milch alle sind, mit dem Boot los muss. Ihr Mann absentiert sich auch ziemlich konsequent. Ihr kleiner Sohn möchte gerne zum 27. Mal an diesem Tag den Grüffelo vorgelesen bekommen, und ihr großer Sohn baut mit Lego Katastrophenszenarien nach und ist vom Zustand der Welt besessen.

Das Tolle daran ist, dass sie mit so einem trockenen Humor diese Situation beschreibt. Allein die sarkastischen Sprüche über ihren Mann sind es schon wert. Aber eben auch, und das hat mich damals so beeindruckt, dass so klar ist: Sie liebt ihre Kinder und liest ihnen auch gerne vor und spielt auch gern mit denen, aber das geht einfach nicht 24/7. Sie möchte auch ihre Arbeit machen. Das widerspricht sich überhaupt nicht, diese Notwendigkeit und wie es sie so an den Schreibtisch zieht und wie sie das beschreibt, das ist einfach total großartig. Das Buch hat aber auch eine historische Spannungsebene. Es ist ein ganz, ganz toller Roman."

Mary Beard: Frauen & Macht

"Mary Beard ist eine Althistorikerin, eine Britin. Dieses Buch ist ganz dünn und besteht aus zwei Vorträgen, die aber wahnsinnig gut lesbar sind. Ich glaube, es ist 2018 rausgekommen, in dem Jahr, als ich meinen Blog gestartet habe und noch gar nicht wusste, dass der so feministisch werden würde. Das war eigentlich so eins der feministischen Sachbücher, die mir total die Augen geöffnet haben in diesem Moment. Was sie nämlich macht, ist sehr weit zurückgehen in unserer Kulturgeschichte - bis zu den alten Griechen - und gucken, was für Geschichten da über Frauen erzählt wurden.

Dann spannt sie den Bogen bis heute, bis in die Zeit des Internets und des Trump-und Clinton-Wahlkampfs. Sie zeigt, was es da für Parallelen gibt. Und das ist total irre. Also, worüber Frauen abgewertet werden. Zum Beispiel gab es in Trumps Wahlkampf so ein Bild, wo er den Kopf, also das Haupt der Medusa hat - und das war aber eben Hillary Clinton. Also diese Bezüge auf unsere uralte Kultur, in denen eben Frauen auch schon der Mund verboten wurde und die ins Haus geschickt wurden. Wie tief das sitzt und dass das immer noch da ist, das zeigt sie auf eine Weise, die völlig überzeugend ist und keinen Widerspruch duldet. Das ist einfach ganz klar."

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