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Mai Ling beim Donaufestival 2022

David Višnjić

donaufestival

„We all eat dirt“ und anderes food for thought: Das Donaufestival geht weiter

Kühleres Wetter, nachhaltige Denkanstöße: Eindrücke vom besonders global umfassend gebuchten, zweiten Freitag des Donaufestivals 2022, featuring Mai Ling Kollektiv, Raja Kirik, Mabe Fratti, Les Filles de Illighadad.

Von Katharina Seidler

Der Regen hat die Kirschblüten von den Bäumen gewaschen. Die kühle Jahreszeit streckt ihre Glieder noch einmal in Richtung Krems, und das zweite Wochenende des Donaufestivals hebt vorerst mit etwas weniger Gewusel und noch deutlich spürbarer Erschöpfung aus Runde 1 an. In der Minoritenkirche ist die guatemaltekische Cellistin Mabe Fratti für den verhinderten Rapper JJJJerome Ellis eingesprungen, das Finale ihrer Tour stellt somit nach dem Auftritt von Galya Bisengalieva letzte Woche wieder ein Streichinstrument ins Zentrum des Festivalauftakts.

Mabe Fratti beim Donaufestival 2022

David Višnjić

Mabe Fratti

Wo die Violinistin zuletzt allerdings ambientale Klagesymphonien über die Zerstörung des Planeten anstimmte, zelebriert Mabe Fratti gemeinsam mit einem Mitmusiker an E-Gitarre und Klavier das genresprengende Potential ihres Cellos in einnehmenden Kunstliedern zwischen freier Improvisation und sehnsuchtsvollem Pop. Krachwände werden von Frattis klarer Stimme durchbrochen, auf minimalistische Melodieskizzen, wie sie etwa auch Liz Harris als Grouper zeichnet, folgen dissonante Ausbrüche und ausufernde Cellosoli.

Wie wir aus dem Pressetext erfahren, verarbeitet die Musikerin in ihren wandelbaren Kompositionen - oder sind es doch Songs? - die unterschiedlichsten Einflüsse wie etwa die Musiktraditionen der sephardisch-jüdischen Diaspora im Mittelmeerraum. Man muss das nicht wissen, um an diesem Nachmittag im Dampf der Regenmäntel etwas zu spüren. „Será que ahora podremos entendernos?“ heißt das aktuelle Album von Mabe Fratti: „Kann es denn sein, dass wir einander nun gar verstehen?“

Raja Kirik beim Donaufestival 2022

David Višnjić

Raja Kirik

Ein Festival braucht Headliner, klar, aber ein Festival wie das Donaufestival braucht auch Überraschungsmomente, wie sie kurz darauf das zweifellos nur den allerwenigstens Anwesenden bekannte, indonesische Duo Raja Kirik über die Minoritenkirche brachte. Es war kaum weniger als ein Irrsinn. Yennu Ariendra und J. Mo’ong Santoso Pribadi bauen die Instrumente, auf denen sie das nun folgende Beatgewitter entfesseln, selbst, eine Art Riesendidgeridoo mit Mundstück und Plastiksackerl, elektronische Trommeln, Kisten, Kasteln, Spiralen und Drähte, dazu gibt es Verstärker und Filtermaschinen aus dem Höllenschlund.

Wie aus dem Hinterhalt rollt im Kirchenschiff sodann eine Walze aus Bass und Beats los, die in ihrer Kompromisslosigkeit selbst im hartgesottenen Donaufestivalprogramm ihresgleichen sucht und in kürzester Zeit jede*n im Raum um Hörvermögen und Verstand fürchten lässt. Hastig ins Ohr gestopfte Taschentuchfetzen verhindern wohl Nachhaltigeres. Die extrem agilen Rhythmuspatterns imitieren offenbar die ausweichenden Tanzbewegungen javanischer Widerstandsmusiker aus dem 11. Jahrhundert; gleichzeitig erschaffen Raja Kirik aber auch modernen Noise-Techno und reißen auf ihrem Weg auch ein paar eingefahrene Hörmuster ein. Irgendwo in einem Paralleluniversum stürzt diese Musik gerade Diktatoren vom Thron.

Raja Kirik beim Donaufestival 2022

David Višnjić

Raja Kirik

Mit Sausen im Ohr geht es über die Und-Straße und die auf den Asphalt gemalten Gedenkteppiche an ermordete Kremser Jüdinnen zurück zur Festivalzentrale in den Messehallen, wo in der Halle 3 das Leitmotiv kulturelle Aneignung anhand von kulinarischen Phänomenen verhandelt wird. Letzte Woche erzählten dort die Kids of the Diaspora die kolonial geprägte Geschichte von Rum in einem Bar-Setting mit anschließender Rumverkostung; heute brutzelt und duftet es beim Eintreten in den Saal, denn im Rahmen der Performance „We all eat dirt“ wird heute gekocht. „My name is Mai Ling“, beginnt eine Darstellerin des Wiener Mai Ling Kollektivs zu sprechen, „my name is also Mai Ling“, sagt die zweite, und so geht es weiter, in Anspielung auf einen deftigen Sketch von Gerhard Polt über stereotype, westliche Auffassungen asiatischer Menschen und ihrer Kultur.

Mai Ling beim Donaufestival 2022

David Višnjić

„Mai Ling kocht 3: We all eat dirt“

In der folgenden Stunde wird das Publikum mit schmerzhaften Wahrheiten konfrontiert, die weit über das Klischee von panasiatischen „China Restaurants“ mit dahindudelndem, pentatonischem Soundtrack hinausgehen. Das buchstäbliche Naserümpfen über fermentierte Speisen wird mit dem Körperkult der modernen Gesellschaft konterkariert – es „stinkt“, aber die Keime sind doch so gut für die Haut, später zeigt eine Darstellerin am eigenen Körper das Rezept fürs Einlegen der geleeartigen, sogenannten tausendjährigen Eier aus der chinesischen Küche.

Das Einreiben mit Kalkpaste und Stroh greift gleichzeitig subtil, aber sehr deutlich auch die erotische Fetischisierung asiatischer Frauenkörper auf, hält im Dampf aus Pfannen und Töpfen und vor dem einladenden Setting der gemeinsamen Tafel aber immer die Balance zum erfreulichen, erhellenden, nachhaltig angeregten kollektiven Denkprozess.

Mai Ling beim Donaufestival 2022

David Višnjić

Schließlich geht es auch ums Zusammen-Essen, und so teilen sich die Zuseher*innen anschließend dampfende Schüsseln mit Reisbrei, Eiern, eingelegtem Rettich und aromatischen Toppings. „Wahrscheinlich die beste Performance, die ich hier beim Donaufestival je gesehen habe“, sagt eine Besucherin nach dem Essen.

Les Filles de Illighadad beim Donaufestival 2022

David Višnjić

Les Filles de Illighadad

In Sachen Aufnahmefähigkeit und food for thought, im wahrsten Sinne des Wortes, reicht es für einen Abend nun eigentlich schon, dabei geht es auf den großen Floors nun eigentlich erst los. Erneuter Vibe-Wechsel: Im Stadtsaal transformieren die Musiker*innen von Les Filles de Illighadad aus der Stadt Illighadad im Niger traditionelle Tuareggesänge und Hochzeitsmelodien zu moderner, psychedelischer Rockmusik. Zu den federnden Bassschlägen, entstanden durch Klopfen auf eine im Wasser schwimmende Halbkugel, und den repetitiven Gitarrenmotiven der nigerischen Gitarrenpionierin Fatou Seidi Ghali verfällt das Publikum in hypnotische Zustände. Tanzen, Wippen, Mitklatschen, Kinder in der ersten Reihe, die bisher freundlichste Performance im diesjährigen Line-up.

The Bug & Dis Fig beim Donaufestival 2022

David Višnjić

The Bug & Dis Fig

Auch dies ist Donaufestival: Das Nachdenken über all den Input, das An- und Ausziehen von Jacken und Pullis im wechselhaften Frühlingswetter, die Nahrungssuche zwischen 14 und 17 Uhr in den Lokalen der Stadt (Corleone erkannte als einziges diese Marktlücke). Das herübergewehte Fußballspiel vom angrenzenden Platz, die Geschichten der alten Bekannten über ihr gigantisches Engagement in der Hilfe für ukrainische Geflüchtete in Österreich. Das Austauschen über das Erlebte, das Raunen über freigewordene Plätze in ausgebuchten Performances, der weiße Wachauer Spritzer aus der Flasche, das Türenknallen im Parkhotel.

Giant Swan beim Donaufestival 2022

David Višnjić

Giant Swan

Natürlich auch: Die Dub-Noir-Schlieren von Großmeister The Bug mit kongenialer Dis Fig am Mikrophon (Samstagabend auch noch solo zu erleben), die hard hitting Beatsalven aus der geliebten 808 Drummachine von Ammar808, die er sich gleich in den Namen geschrieben hat, die überraschend sehr harte Rückkehr der Ravemaschinen Giant Swan auf die Bühne der Halle 2. Es ist eigentlich zu viel und doch ist es genau genug für alle, denn jede*r erlebt eine andere Nacht. Wenn diese Zeilen online gehen, hat in der Dominikanerkirche die sechsstündige, heiß gehandelte Performance „Fire walk with me“ von Ariel Efraim Ashbel bereits begonnen. Neue Geschichten.

Ammar 808 beim Donaufestival 2022

David Višnjić

AMMAR808

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