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Ich hol mich hier raus

Im neuen Roman der Wiener Autorin und Filmemacherin Iris Blauensteiner verliert ein Zwanzigjähriger kurz vor der Jahrtausendwende seinen Job im Warenlager. Das wirft ihn aus der Bahn. „Atemhaut“ erzählt die Geschichte eines biografischen Schleudertraumas und fragt: Bin ich mein Job?

Von Daniel Grabner

Iris Blauensteiner lässt ihre Geschichte an einem Schauplatz beginnen, den man vielleicht als das heart of darkness unserer Gesellschaft bezeichnen könnte: zwischen unzähligen Konsumgütern im riesigen Warenlager eines Logistikunternehmens. Nicht nur wegen der üblicherweise vorherrschenden ausbeuterischen Arbeitsbedingungen, wie sie bei Giganten wie Amazon und anderen längst bekannt sind, sondern auch, weil hier besonders anschaulich wird, was in unserer hochorganisierten Gesellschaft in den meisten Jobs ganz selbstverständlich der Fall ist: die Trennung der eigenen Tätigkeit von ihrem Outcome. Das, was ich produziere (wenn man überhaupt noch etwas produziert), produziere ich für den Gewinn von jemand anderem. „Entfremdung“ sagt man in der Soziologie dazu, it’s capitalism, stupid! Aber ein Job ist doch eh nur ein Job, oder?

Jedenfalls, Edin, der Protagonist in Iris Blauensteiners Geschichte, ist Lagerarbeiter und mag seinen Job, die körperliche Arbeit, Pakete stemmen, das Soll erfüllen, er fühlt sich nützlich. Er ist Teil dieser komplizierten Maschine des Warenlagers, in dem Abläufe zeitlich genau koordiniert werden, ineinandergreifen, die Aufgaben klar verteilt sind. Das gibt ihm Halt, auch im Leben, denn darauf hat er seine Zukunft aufgebaut, Karriere machen, Haus bauen, Kinder bekommen.

Kein Job, kein Leben

Die Geschichte spielt Ende der 90er, kurz vor der Jahrtausendwende, man zahlt noch in Schilling, die Digitalisierung der Arbeitswelt steckt noch in den Kinderschuhen (Amazon hat gerade erst seine erste internationale Website gelauncht) und ins Internet wählt man sich noch mit einem quietschenden Modem ein. Doch dann hält die Digitalisierung auch Einzug in Edins Unternehmen, Arbeitsabläufe werden „optimiert“, er hat Probleme mitzuhalten, bekommt körperliche Beschwerden und wird entlassen. Während seine Lebensgefährtin Vanessa, mit der Edin zusammenlebt, weiter Karriere macht, verliert er nicht nur seinen Job, sondern damit auch jeglichen Halt im Leben.

Immersives Schleudern

"Atemhaut“ ist das Porträt eines Zwanzigjährigen, der plötzlich ganz unten ist, der mit seinem Job sein Selbstverständnis und seinen einzigen Lebensentwurf verloren hat. Edin weiß schlichtweg einfach nicht mehr, wer er ist. Erzählt ist diese Erfahrung der Selbstentfremdung, der Orientierungslosigkeit relativ ungewöhnlich und anschaulich. Denn die Perspektive, aus der Edins Innenleben geschildert ist, ist fast durchgängig das „Du“. Beim nächtlichen Videospielen mit Vanessa, beim Verfassen von Bewerbungsschreiben, beim Kochen, Edin nimmt sich mit diesem „Du“ von außen wahr. Eine Perspektive, wie sie auch in storylastigen Videospielgenres verwendet wird. Man spielt sich selbst, als jemand anderes.

Die Fäuste lösen sich und in den Fingern sammelt sich die Kraft. So gehst du zwischen den Greifarmen und Laufbändern, den Wägen und Gabelstaplern, den Kollegen und Kolleginnen an den Geräten und den Waren hindurch, die sich zu den perfekten Uhrzeiten an den vorgesehenen Stellen im System befinden. Du bist überzeugt, dass dich jeder sieht, dass du auffällst.

Iris Blauensteiner, die auch Kurz- und Dokumentarfilmerin ist, arbeitet auch in ihrem Roman mit Nahaufnahmen. Edins Welt zerfällt in Schilderungen bruchstückhafter Einzelteile: Sinneseindrücke, Close-ups, Detailaufnahmen, Geräusche, der Text zoomt hinein bis in den Körper von Edin, wo physiologische Abläufe beschrieben werden. Das macht den Roman nicht unbedingt zur leichten Kost, wenn man sich darauf einlässt, wird es aber ziemlich immersiv. Man könnte sagen, der Text performt die Orientierungslosigkeit von Edin.

Buchcover mit wellenartiger Grafik

Kremayr & Scheriau

Das Nutzlose als Rettung

Die Geschichte nimmt eine Wendung, die man nicht kommen sieht. Nachdem Edin Bewerbungen schreibt, die nicht beantwortet werden, oder er gar nicht zu Vorstellungsgesprächen geht, weil er sich einfach nicht vorstellen kann, was er überhaupt machen könnte, und sich auch von Vanessa immer mehr entfernt, beginnt er, an einem eigentümlichen Projekt zu arbeiten.

Aus scheinbar nutzlosen Einzelteilen bastelt Edin eine technische Vorrichtung: die Atemhaut. Dieses vermeintlich nutzlose Ding, das für niemanden Sinn ergibt, außer für ihn selbst, ist es, das ihn letztendlich aus der Orientierungslosigkeit befreit. In einer Welt, die auf Produktivität ausgerichtet ist und ein Leben neben dem System nicht möglich scheint, ist es ein radikaler Akt der Emanzipation, etwas allgemein Sinnloses zu schaffen und gerade darin persönlichen Sinn zu finden. Ein schöner Twist.

„Atemhaut“ ist ein Roman, der nach dem Stellenwert der Arbeit in unserem Leben fragt, und vor allem ein Roman über Entfremdung und Sinnsuche, ein poetischer Entwicklungsroman und die hoffnungsvolle Geschichte eines Menschen, der sich aus eigener Kraft emanzipiert und sich selbst und seinem Leben eine neue Richtung gibt.

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