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Pixabay/Arek Socha

„Die Wut, die bleibt“: Alles über meine Mutter

Wie geht man damit um, wenn der für einen wichtigste Mensch plötzlich nicht mehr da ist? Davon erzählt die Salzburger Autorin Mareike Fallwickl. Der Roman „Die Wut, die bleibt“ dreht sich um drei Frauen - eine, die bereits am Anfang des Buches stirbt, und zwei, die mit diesem Verlust umgehen lernen müssen. Triggerwarnung: In diesem Buch geht es unter anderem um Selbstmord und sexualisierte Gewalt.

Von Jenny Blochberger

Die dreifache Mutter Helene steht eines Abends einfach vom Essen auf und stürzt sich vom Balkon in den Tod. Zurück bleiben ihr Mann und ihre drei Kinder sowie Sarah, ihre beste Freundin seit Jugendtagen. Alle sind erschüttert und schockiert - Helene wirkte zwar erschöpft, aber nicht unglücklich, und sie liebte ihre Familie.

Helenes Tod ist eine brüllend laute Anklage, und deswegen kann Sarah nicht aufstehen. Ja, sie hat Helene nicht besucht im Lockdown, aber verdammte Scheiße, es war nun mal nicht erlaubt! Ja, sie hat ihr nicht geholfen, aber Helene hat nie um Hilfe gebeten! Ja, sie hat es entspannter gehabt und unstressiger, aber das ist nicht ihre Schuld! Man kann zwei Lebensentwürfe nicht nebeneinanderstellen und vergleichen. Klar ist eigentlich nur, sie haben sich das beide ganz anders ausgerechnet. (...) Fünfzehn Jahre lang war Helenes Körper unversehrt, dann nicht mehr. Dann sind Männer gekommen und Kinder, die ganze verschissene Welt, sie haben ihn kaputt gemacht, und ja, vielleicht hat Helene ihn am Ende selbst zerschmettert, aber eigentlich nicht.

Mental Load als Female Load

Die kinderlose Sarah, eine erfolgreiche Krimiautorin, zieht vorübergehend zu Helenes verwaister Familie, um dem Witwer Johannes und den drei Kindern über die erste schreckliche Zeit zu helfen. Sehr schnell aber etabliert sich eine Routine, der Sarah bald nicht mehr auskommt; weil Johannes vielbeschäftigt und in Trauer und mit Haushalt und Kindern einfach so überfordert ist, verlängert Sarah mehrmals ihren unterstützenden Aufenthalt - was sie immer mehr ärgert, weil sie ja auch keine Expertin für die Familie ihrer Freundin ist, als Frau aber automatisch als solche zu gelten scheint. Außerdem wackelt dadurch die Beziehung mit ihrem eigenen Partner, derer sie sich ohnehin unsicher ist, weil er um einiges jünger ist und ihren wachsenden Kinderwunsch konsequent ignoriert. Als erzählerischer Kniff wird Sarah immer wieder von einer Vision von Helene besucht, die aus dem Nähkästchen ihres Lebens plaudert, damit auch die Leser*innen ihre Motive verstehen.

Cover des Romans "Die Wut, die bleibt" von Mareike Fallwickl

Rowohlt Verlag

„Die Wut, die bleibt“ von Mareike Fallwickl (384 Seiten) ist im Rowohlt Verlag erschienen.

An deinem ersten Morgen hier, sagt sie, als Maxi gekotzt hat und Lucius gestürzt ist, was hat Johannes getan?
Sie erwartet keine Antwort.
Lola hat Maxi hochgehoben und ins Bad getragen, du hast Lucius getröstet. Johannes hat auf die Uhr geschaut. Oh, er meint es nicht böse, er liebt sie. Aber wozu sollte er sich kümmern? Ihr wart ja da, ihr beiden. Die Frauen, die machen das. So ist er es gewöhnt, und er hinterfragt es nicht.

Coming-of-Age mit Wendungen

Gleichzeitig versucht Helenes Teenagertochter Lola, mit dem Verlust der Mutter irgendwie zurechtzukommen. Lolas wichtigste Stütze ist dabei ihre beste Freundin Sunny. Diese Freundschaft ist quasi das Herzstück des Buches: eine felsenfeste Loyalität und Liebe, die Lola zwar nicht über den Tod der Mutter hinwegtrösten kann, aber sie doch vor dem Untergang bewahrt. Man ahnt, dass auch Helene und Sarah eine ähnlich innige Freundschaft verbunden hat. Wo sich Lolas Reise aber im Laufe der Erzählung hinentwickelt, ist unerwartet und spannend. Es ist eine Geschichte von Freiheit und Ermächtigung und Rebellion, die gleichzeitig sehr fest in der Gegenwart verankert ist, in der Teenager alles über unrealistische Körperbilder und inklusive Sprache und Privilegien wissen. Lola ist allerdings ein wenig zu sehr das überzeichnete Abziehbild eines woken Teenagers; ihre Meinungsausbrüche sind zwar inhaltlich plausibel, klingen von der Formulierung her aber weniger nach einer politikinteressierten Fünfzehnjährigen als nach den Tweets einer journalistisch versierten Sozialwissenschaftlerin.

„Du bist eine misogyne Serientäterin“, erklärt Lola und hat dieses flatternde Gefühl in der Brust, weil sie alles gut erklären muss, bevor ihre Redezeit vorüber ist, bevor das Gegenüber nicht mehr zuhört oder ein Streit ausbricht, „deine Krimis sind frauenfeindlich. Sie normalisieren Gewalt gegen Frauen, die geschlagen und gefoltert werden, entführt, ermordet, zerstückelt. Und die Täter sind Männer. Deine Bücher tragen zu einem gesellschaftlichen Klima bei, in dem ein Femizid stets im Bereich des Möglichen liegt.“

Sarah ist eher die Generation Bridget Jones; sie ist stolz auf ihren kommerziellen Erfolg als Schriftstellerin, der ihr finanzielle Unabhängigkeit sichert, hat aber gleichzeitig ständig das Gefühl, gesellschaftlichen Erwartungen entsprechen zu müssen: attraktiv und begehrenswert, stets zu Sex aufgelegt und mit einem natürlichen Mutterinstinkt gesegnet, ohne Mutter zu sein.

Autorinnenfoto von Mareike Fallwickl

Gyöngyi Tasi

Autorin Mareike Fallwickl

Pageturner mit Filmqualitäten

„Die Wut, die bleibt“ liest sich extrem flüssig, die Figuren sind greifbar, wenn auch nicht übertrieben nuanciert gezeichnet. Vor allem die Männer sollen eher eine Idee darstellen als echte, mehrschichtige Persönlichkeiten; damit sind sie aber auch ein leichtes Ziel und das Seufzen darüber, dass sie zu ahnungslos sind, um im eigenen Haushalt das Babypuder zu finden, ist letztlich auch ein Jammern über das eigene Unvermögen, sie mit diesem Aus-der-Verantwortung-Stehlen nicht davonkommen zu lassen.

Dafür entschädigt die Dynamik zwischen einzelnen Protagonistinnen und die Betonung der Wichtigkeit enger Freundschaft, die oft beständiger und tiefer verwurzelt ist als romantische Beziehungen. Vor allem die spannungsgeladene Entwicklung von Lola lädt direkt zu einer Verfilmung ein. Denn angeekelt von der Lüge der Emanzipation, die sich ihre Muttergeneration selbst erzählt hat, schwören Lola und ihre Freundinnen, es ganz anders zu machen - und ziehen ihr Ding erstaunlich konsequent durch. Dass die Erzählung damit doch sehr in Richtung Thriller abdriftet, nimmt ihr zwar etwas an Glaubwürdigkeit, das macht aber fast gar nichts, weil es einfach sehr befriedigend ist, den jungen Frauen bei ihrer Selbstermächtigung zuzuschauen - selbst wenn sie dabei etwas (zu) weit gehen. Das ist bei Coming-of-Age-Geschichten über junge Männer immerhin Standard; hier bewegen sich eben Mädchen in einen moralischen Graubereich und bleiben dabei menschlich und nachvollziehbar.

Wäre doch Zeit für eine charaktergetriebene deutschsprachige Serie, in der interessante Frauenfiguren wichtige Themen verhandeln - hier wäre eine hervorragende Vorlage dafür.

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