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CC0/Pixabay

Buch

Von der Außenseiterin zur TikTok-Symbolfigur der Querdenker

„Tick Tack“ heißt der zweite Roman der deutschen Autorin Julia von Lucadou. Die Geschichte handelt von der 15-Jährigen Mette aus Köln, die auf Social Media während der Pandemie zu einer Symbolfigur der Corona-Leugner*innen wird.

Von Alica Ouschan

Wie wir alle in den letzten zwei Jahren mitbekommen haben, ist die Grenze zwischen Protest, Fake News und Verschwörungstheorien nicht immer ganz klar erkennbar. Wie leicht besonders junge Menschen durch Social Media Gefahr laufen, in Querdenker-Kreise hineinzukippen, darüber hat die Autorin Julia Von Lucadou einen Roman geschrieben.

Für ihren ersten Roman „Die Hochhausspringerin“ wurde sie 2018 mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. Jetzt legt sie mit „Tick Tack“ nach, einem literarischen Abbild der Gegenwart. Diesmal sind sich die Leser*innen aber nicht ganz so einig wie noch bei ihrem Debut. Um herauszufinden, warum „Tick Tack“ für viele schwer les- und deutbar ist, reicht es vielleicht auch nicht unbedingt, nur den Roman zu lesen.

Alles für die Follower

Buchcover

Hanser Verlag Berlin

Tick Tack von Julia Von Lucadou hat 256 Seiten und ist im Hanser Verlag Berlin erschienen.

Almette wurde von ihrer Mutter nach einem Streichkäse benannt, ist eine furchtbar wütende junge Frau und mit ihrem Leben unzufrieden. Sie fühlt sich von der besten Freundin verraten, vom Leben und der Schule unterfordert und von ihren Eltern missverstanden. Obwohl sie sich allem und jedem total überlegen fühlt, ist sie gleichzeitig die Musteraußenseiterin, die zu viel Zeit auf Social Media verbringt und in ihrer eigenen Hyperrealität lebt.

Als ihre einzige Freundin plötzlich das neue It-Girl der Schule dated, legt sich Mette kurzerhand auf die Gleise in einer Kölner U-Bahn Station. Zwar wird sie im letzten Moment gerettet, es bleibt aber unklar, ob sie tatsächlich suizidale Absichten hatte oder ob Mette mit der Aktion und dem dazugehörigen Ankündigungsvideo auf TikTok nur ihre Followerzahlen steigern wollte.

Durch das Video wird auch Jo, ein sechsundzwanzigjähriger Incel und älterer Halbbruder von Mettes Klassenkollegin auf sie aufmerksam. Jo betreibt heimlich einen anonymen Blog, auf dem er frauenfeindliche und rassistische Inhalte teilt und rechtsextreme Hetze postet.

das wärmt mir das Herz, das ganze Potential, das da aus dem Auto schwabbelt, der sieht man die Lernfähigkeit richtig an, die schreit nur so nach einem, der ihr zeigt, wos langgeht

Abwechselnd aus seiner und ihrer Sicht wird die Geschichte in Thread-artigen Kapiteln forterzählt. Während Jo unter dem Namen Mfkn Memelord seine Trump-Verherrlichung und sexistische Gewaltfantasien unter virtuellem Applaus seiner männlichen Follower im Internet verbreitet, füttert er im echten Leben die kluge, aber sich nach Zugehörigkeit und Anerkennung sehnende Mette langsam und vorsichtig, aber stetig mit seinem Gedankengut.

Geblendet und wütend

Von ihrer Schwärmerei für Jo und durch seine gezielte Manipulation geblendet, lässt sich Mette immer weiter in einen Strudel der Verschwörung reinziehen und stimmt zu, mit Jos Hilfe eine Symbolfigur der Außenseiter auf TikTok zu werden. Wie von ihm prophezeit geht Mette schnell viral, unter ihre Fans mischen sich aber ebenso schnell auch Menschen aus dem rechtsextremen Milieu.

Als dann ein Jahr später die Corona Pandemie ausbricht, wittert Jo die ideale Gelegenheit, um sein Gedankengut an die Massen zu bringen. Das Buch macht hier einen Zeitsprung, in dem Mette sich mit Jos Hilfe zur Anführerin der Querdenker*innen hocharbeitet. Sie postet durchdachte, rechte Hetzvideos auf TikTok und marschiert mit Sophie-Scholl-Plakaten neben Rechtsextremisten mit Reichsbürgerflagge auf Corona-Demos.

„Nein zu Nazis? Wenn sie nicht solche Heuchler wären, würden sie die Schilder auf unserer Seite der Absperrung hochhalten. Die Meinungsfreiheit haben die Nazis damals als Erstes verboten, oder nicht? Ich drehe den Staatsmarionetten mein Sophie-Scholl Plakat zu und schließe mich ihrem Schlachtruf an: „Nazis raus!“

Autorin Julia von Lucadou zeigt erschreckend glaubwürdig, wie schnell sich eine junge Person die Sprache von rechtsextremen Querdenkern aneignen kann. Gleichzeitig laufen die Ebenen der Story Gefahr, vor lauter Social Media Threads und Slangwörtern von Personen, die nicht unmittelbar mit dem Jugendsprech der GenZ vertraut sind, missverstanden zu werden.

Es geht um mehr als Verschwörungstheorien und TikTok-Fame

„Wenn Mama & Papa dich nicht lieb haben, wirst du Querdenkerin auf TikTok“, das ist die platte Storyline, die viele seiner Kritiker*innen dem Buch unterstellen wollen. Dieses Urteil ist aber viel zu kurz gedacht. Die Geschichte schneidet viel mehr gegenwärtige Problematiken an als nur Verschwörungstheorien und TikTok-Fame.

Julia von Lucadou schreibt authentisch und messerscharf aus der Sicht eines Incels, einem Frauenhasser par Exellence in einer derartigen Widerlichkeit, dass es einem den Magen umdreht und die Gefahr, die von dieser Menschengruppe ausgeht, verdeutlicht. Die Art der Manipulation, die ein elf Jahre älterer Mann auf eine Teenagerin - mit Erfolg -ausübt, ist ebenso ekelhaft und erschreckend wie ernüchternd realistisch.

Die zwei Perspektiven, aus denen erzählt wird, sind beide extrem unsympathisch und genau deshalb so gut. „Tick Tack“ ist trotz seiner 15-jährigen Protagonistin kein Jugendbuch, sondern ein unbequemer und fordernder Gegenwartsroman, der die Explosivität der Mischung Intelligenz plus Wut vor Augen führt.

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