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Primavera Sound Barcelona Atmosphäre 2

Dani Canto

festivalradio

High- und Lowlights am Primavera Sound Festival

Organisatorisches Chaos und sehr gute Konzerte gab es am ersten Wochenende des Primavera Sound Festival 2022 in Barcelona.

Von Lisa Schneider

An den Nachbesprechungen zur Organisation des Primavera Sound Festivals in Barcelona will ich nicht teilnehmen müssen. Sie werden lange dauern. Vor allem wird es um den ersten Festivaltag im Parc del Forum gehen, also um Donnerstag, den 2. Juni. Dass sehr viele Menschen am Festivalgelände unterwegs sind, ist per se erstmal keine große Überraschung (angekündigt wurden „fast eine halbe Million Besucher*innen“). Was sich dann aber an besagtem Eröffnungstag abgespielt hat, hätte so nicht passieren dürfen. Eine Besucher*in aus Schottland spricht von „Überbuchung“, andere ärgern sich darüber, dass sie ihren Freund*innen vorgeschwärmt haben, wie toll es hier jedes Jahr zuvor gewesen wäre, und wie groß die Enttäuschung heuer ist. Die Schlangen an Bar und WC waren so lang, dass die Wartezeiten tatsächlich Stunden betragen haben. Dasselbe bei den Wasserbrunnen.

Vielleicht hat man es vor Ort gar noch nicht so mitbekommen, weil etwa der Stehplatz (weiter hinten am großen Fußballfeld, da, wo alles eher locker gefüllt war) gut gewählt war. Aber offenbar gab es beim ersten großen Headliner-Set von Tame Impala grobe Probleme, wollte man aus der dicht gedrängten Crowd wieder heraus. Social Media ist erst am nächsten Tag explodiert, Instagram-Seiten wie „primaverasucks“ sind gegründet worden. Ein privater Account, der Stories und Posts von Festivalbesucher*innen repostet. Da liest man von übergriffigen Securites, besagtem Problem, dass es beinah unmöglich war, an einen Schluck Wasser zu kommen (es ist Juni! wir sind in Barcelona! es ist heiß!) und von sogenannten „Nadelöhr-Durchgängen“ am Hin- oder Rückweg von diversen Bühnen.

Das Team hinter dem Primavera hat mitbekommen, dass das alles nicht so glatt gelaufen ist wie geplant. Es wurde zwar kein detailliertes Statement veröffentlicht, aber innerhalb weniger Stunden ein bisschen etwas - zumindest an der Barsituation - geändert. Die Leute, die aber ihr Ticket gekauft haben, haben es meist für das gesamte Wochenende gekauft (und nur wenige haben, laut Social Media, beschlossen, nach dem ersten Tag nicht wieder ins Parc del Forum zu fahren). Und so waren auch Tag 2 und 3 nicht immer unerträglich dicht, aber schon ein bisschen zu gut gefüllt.

Primavera Sound 2022 Atmosphäre

Dani Canto

Das Primavera Sound Festival feiert nach mehrmaliger, coronabedingter Verschiebung heuer sein 20. Jubiläum und das mit einer Festivalausgabe, die sich erstmals über 12 Tage erstreckt und an die 650 Konzerte einschließt. Am vergangenem Wochenende wurde der Parc del Forum bespielt, auch ab kommendem Donnerstag geht es dort mit dem zweiten großen Livewochenende weiter. Dazwischen gibt es Auftritte in diversen Locations in Barcelona-Stadt zu sehen.

Es ist kein Wunder, dass das Primavera so beliebt ist. Hier sieht man eine Auswahl der besten Acts der Welt, und das hat sich auch 2022 nicht geändert. Probleme mit Timetable-Clashes nehmen hier deshalb naturgemäß ungeahnte Dimensionen an. Aber immerhin: Musste man aufs WC oder war durstig, hat sich die Frage von selbst gelöst. Zu früh? Zu früh.

Tame Impala am Primavera Sound Festival 2022

Sergio Albert

The Strokes mussten ihren Auftritt wegen eines Covid-Falles in der Band absagen, und überraschenderweise hat sich daraus einer der schönsten Festivalmomente überhaupt ergeben. Alleskönner Kevin Parker covert mit seiner Band Tame Impala „Last Nite“, und alle Nostalgiker*innen kreischen los. War es für Bands vor 20 Jahren einfacher, ihre Generation zu prägen? Nein. Der normalsterbliche Teenager wird sich ein Wochenende am Primavera Sound aber kaum leisten können, und so zielt dieser 00er-Jahre-Hit genau hinein ins Herz der Menschen, die jetzt in ihren 30ern oder 40ern angekommen sind. So in etwa darf man sich das Durchschnittsalter der Festivalbesucher*innen vorstellen.

Festivalsets sind im besten Fall Hit-Sets. Und Beck ist schon alt genug und lang genug dabei, um zu wissen, dass er große Songs und nicht so große Songs geschrieben hat. Erstere nimmt er mit aufs Primavera. Da läuft der unterschätzte Gitarrendisko-Knicks „E-Pro“, ein tränenförderndes Cover von „Everybody’s Got To Learn Sometimes“, und natürlich auch „Loser“. Mit diesem Lied hat sich Beck sein Image für immer geschrieben, er ist am Primavera ganz der tapsige, weiß beanzugte Entertainer, der am Schulhof nie bei den coolen Kids dabei war. Das alles ist nicht unbedingt sexy, aber authentisch und deshalb sympathisch.

Beck am Primavera Sound Festival 2022

Dani Canto

Sogar die festivaleigene App, die jeden Act mit einem Satz beschreibt, greift bei Beck schlicht auf die drei Wörter „I’m a loser“ zurück. Die App ist übrigens sowieso fantastisch, nicht weil sie so übersichtlich wäre, sondern genau wegen dieser sicher unautorisierten Act-Beschreibungen. Ein paar Schmankerl: Little Simz klingt hier wie „When Shakespeare was black and a woman“, Warpaint erhalten den mystisch guten Titel „Siren songs“, und Cigarettes After Sex haben ohnehin nur ein Lied, weshalb „The man who whispered to the crowd“ herrlich passt. Nick Cave wäre wohl einverstanden mit „Eternity was this“.

Nick Cave & The Bad Seeds haben am vergangenen Wochenende ihren ersten Festivalauftritt seit 2018 gespielt, und es war alles fast wie immer. „Get Ready For Love!“, ruft Nick Cave über die Köpfe der tausenden Zuhörer*innen hinweg, irgendwie geht’s immer um alles, und immer ums Oben. The Church of Cave. Und so wird das eins seiner vielen Konzerte, bei denen man sich durchgehend einen guten Satz, eine Textstelle oder eine Bühnenansage notieren möchte (denkt daran: nicht alle Menschen hängen immer nur auf Instagram herum). Glücklich die, die in den ersten Reihen stehen und denen Nick Cave seine Hand immer wieder kurz reicht, während der hervorragend verstrubbelte Warren Ellis sich an vielen Instrumenten, am schönsten aber an der Geige, in Ekstase spielt.

Nick Cave & The Bad Seeds am Primavera Sound Festival 2022

Sergio Albert

So souverän Nick Cave, so worldy Matt Berninger: Als er mit seiner Band The National ebenfalls einen ersten, riesigen Festivalauftritt nach gefühlten 300 Jahren spielt, überkommt ihn Sprachlosigkeit. Die Bühnenansagen übernimmt dann später Bryce Dessner, aber sogar seine Gesten, wie er dem Publikum tatsächlich händeringend erklärt, müsse er jetzt wieder neu erlernen. Das nämlich kann eine Festivalcrowd auch, neben dem Drängen, dem Platz- oder WC-Papier-Wegschnappen: ein Gefühl von totaler Zusammengehörigkeit auslösen und dann, einmal umgekehrt, die Menschen auf der Bühne in Unfassbarkeit zurücklassen.

The National am Primavera Sound Festival 2022

Eric Pamies

Über das Festivalgelände im Parc del Forum verteilt gibt es eine Handvoll mehr oder weniger großer Bühnen. Der krönende, große Abschluss spielt sich am Ende jeden Tages auf einem fußballfeldgroßen Platz ab, an dessen Kopfseiten jeweils eine große Bühne aufgebaut ist. Jetzt stehen diese beiden Bühnen an einem Ende der großen Fläche nebeneinander und werden abwechselnd bespielt. Was vom Primavera-Festivalteam angepriesen wurde mit „damit die Menschen mehr sehen können“, hat sich eher als ein Grund für Gedränge und eine akustische Problematik erwiesen. Wollte man nach beendetem Set von vorne zurück, also hinaus aus der Masse, war das schwer möglich. Und stand man wiederum nicht vor der Bühne, auf der ein Act gerade gespielt hat, sondern zu weit rechts oder links, war der Sound ein völlig anderer.

Porridge Radio am Primavera Sound Festival 2022

Christian Bertrand

Porridge Radio’s Dana Margolin spielt ein Soloset, weil ihre Band - laut Instagram nicht wegen Covid-, sondern Passproblemen - am Weg hierher irgendwo gestrandet ist. Nicht alle Lieder dieser Band, die gerade ihr sehr gutes, zweites Album veröffentlicht hat, eignen sich für ein Set nur an der Gitarre. Dana Margolin wählt die zärtlichsten und eindringlichsten von ihnen aus und stellt sie mit einer emotionalen Intensität vor, bei der man sich fühlt wie vielleicht am Vortag Matt Berninger.

Dana Margolin war selbst schon einmal am Primavera Sound Festival, mit 19 Jahren, als Besucherin. „Feels like the same, but weirder“, fügt sie grinsend zur Tatsache hinzu, dass sie jetzt nicht mehr vor, sondern auf der Bühne steht. Das schöne, arge, markerschütternde Gefühl wird hier anhand der schieferen Töne, der Atemlosigkeit und absoluten Dringlichkeit übertragen. Da landen wir auch im Geiste schon beim Set von Fontaines D.C., die in der untergehenden Nachmittagssonne drauf pfeifen, wie gut unsere Ohrenstöpsel befestigt sind.

Im Windschatten von Bands wie IDLES (die sich vor ihrem Auftritt selbst gern am Gelände herumtreiben, um sich etwa Einstürzende Neubauten und den wunderbar glitzernden - Wortsinn, Lidschatten - Blixa Bargeld anzusehen) groß geworden, setzen sie eine neue Tradition englischer Punkmusik fort. Lieder für Unterdrückte, Zornige, für den kleinen Seelenkern, der kämpfen will, Musik also für alle.

Fontaines D.C. am Primavera Sound Festival 2022

Eric Pamie

Eine andere Art Punk holt man sich am besten bei The Linda Lindas aus Los Angeles ab, deren Mitglieder (junge!) Teenager sind. „What a highschool dream“, schreit eine heisere, vom Tanzen erschöpfte, sehr glückliche Besucherin. Die vom Spielen erschöpfte, gleichfalls glückliche, 14-jährige Gitarristin Lucia de la Garza erzählt nach dem Auftritt, dass sie das alles gar nicht fassen kann. Der französischen Musikerin und Produzentin Oklou geht es ganz ähnlich, hier ist alles charmante Verwirrung. „Can you see me? Are the screens on?“, fragt sie das Publikum, ein bisschen später dann: „How late is it? Can I play one more song?“ Das ist Musik für Menschen, die die von Aldous Harding mögen und die Autotune nicht stört.

Auch zwei österreichische Acts sind heuer am Primavera Sound Festival vertreten: My Ugly Clementine (spielen am zweiten Festivalwochenende) und ANGER, die sich ihren spätnächtlichen, eigentlich schon frühmorgendlichen Timeslot im Parc del Forum mit Tyler, The Creator teilen. Das ist natürlich ein bisschen bitter, aber ein Festival ist ja auch dann erst richtig gut, wenn so viele Lieblingsacts spielen, dass nur Hermine Granger mit Zeitumkehrer helfen könnte.

Tyler, The Creator am Primavera Sound Festival 2022

Sharon Lopez

Bevor es hier jetzt mit endlosem Schwärmen weitergeht, nur noch so viel: Danke an die Folk-Erneuerer Black Country, New Road (make flute and saxophon great again!). Danke an Wet Leg, die ihre teilweise glattproduzierten Lieder live endlich mit bestem Rockband-Spirit spielen. Und danke an die immer noch viel zu unterschätzte New Yorker Band DIIV, die Musik schreibt, wie sie einmal mehr die Festival-App mit der punktgenauen Beschreibung „Requiem for a dreampop“ verspricht.

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