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Juju Springfestival Graz

Luke Goodlife

Traumata heilen mit Juju am Grazer Springfestival

Nach zwei Jahren Pause startet das Grazer Springfestival am Mittwochabend mit einem raffinierten Gegenprogramm zum sonst in erster Linie Elektronik-dominierten Wochenende: Im Orpheum steht am Eröffnungsabend alles im Zeichen des Deutschraps. Mit dabei: Die selbsternannte Grazer Schmutzpartie Siebzig Prozent und Deutschrap-Meisterin Juju.

Von Melissa Erhardt

„Das ist so krass - dieser Club ist so klein, aber das ist so geil, weil ich kann einfach jedes einzelne Gesicht von euch sehen.“ Zugegeben: Im Vergleich zur Berliner Max Schmeling Halle, in der Juju vor knapp zwei Wochen auf spektakulärste Weise ihr „F*ck dein Insta“ Tourende beschlossen hat (zum Namen später mehr), wirkt das Grazer Orpheum doch recht – wie soll ich sagen – putzig. Was dem früheren Varietétheater an Größe und Kapazität fehlt, macht an diesem Springfestival-Eröffnungsabend die exzessive Energie des Publikums aber garantiert wieder wett - oder wie Juju nach den ersten beiden Tracks überrascht festhält: „Ihr seid überkrass. Am Anfang dachten wir noch so: Naja, mal gucken - aber ihr seid cool!“.

Das springfestival graz zählt zu einem der größten österreichischen Plattformen für Elektronische Kunst und Musik. Auf dem diesjährigen Line-Up stehen neben Juju unter anderem Fatboy Slim, Chris Liebing, Elderbrook und Moonbootica.

Bevor die Rapperin aus Neukölln das Orpheum an diesem Mittwochabend zum Beben bringen wird, geht es aber erstmal recht entspannt los. Der samtene Vorhang hält den Großteil der Bühne noch bedeckt, da übernehmen Tommi Z. und Wolfi F. mit ihren Shorts und Shirts das charmante Szenario, das zu einem der ältesten Veranstaltungsstätten der steirischen Landeshauptstadt zählt. Die beiden Rapper sind das Herzstück der Grazer Rap Formation Siebzig Prozent (Honigdachs) – und ihre Heimatstadt wird von den sympathischen Boys auf einem ihrer ersten post-pandemischen Live-Sets auch würdig repräsentiert.

Juju Live

Der Staudenbauer

Zu Kopfnicker-Boom-Bap, ballernden 808s und düsteren Drill-Beats laufen die beiden über die Bühne, holen neben Labelkollegen Kreiml mit MDK, Spello, Al Pone und Co. „halb Graz“ auf die Bühne und geben sich dabei äußerst wortgewandt („Ich weiß nicht, ob ihr’s wisst, aber Speck ist ja nicht nur der Speck zu essen. Und darum geht’s auf unserem nächsten Song: Wenn Speck nicht mehr ballert, vielleicht Palatschinken!“ Ha!). Die selbsternannte Grazer Schmutzpartie gibt in ihrem rund einstündigen Support-Set ihr Bestes – das vor allem weibliche Publikum lässt sich aber nur vereinzelt mitreißen. Das ist nämlich nur für eine Frau da: Juju.

Juju wer?

Wer bis zu diesem Absatz noch immer nicht so genau weiß, wer Juju eigentlich ist – hier ein kurzer Cheat-Sheet inklusive Rewind in das Jahr 2014: Damals finden sich in Berlin zwei Frauen zusammen, die das deutsche Rapgame mit ihren provokanten und nicht selten kontroversen Texten entscheidend mitprägen werden. Tracks wie „Fotzen im Club“ oder „Hassfrau“ gehen nicht nur in die Deutschrapgeschichte ein, sondern öffnen auch Tür und Tor für viele weitere Rapperinnen, die nach den beiden kommen werden. Die beiden, das sind Juju und Nura alias SXTN.

Auf ihren Tracks betreiben SXTN Gesellschaftskritik vom Feinsten - und das völlig ungezwungen, ohne dabei in eine aufgesetzte Sprache zu verfallen. Sexismus, Rassismus und anderen Ismen sagen sie den Kampf an, indem sie sich den Deutschrap-Jargon aneignen und ihn so aus seinem Ursprungskontext entfremden. „Es würde sowieso jeder in die Kommentare schreiben. Wenn man es selbst macht, juckt das nicht mehr", erklärt Juju das Vorgehen in einem Interview einmal als eine Art Selbstschutz.

Ganz nebenbei liefern die beiden Atzen-Rap auf weiblich, Eskalation reiht sich hier an Eskalation. SXTN sind assi, unverschämt und stolz drauf. Das Duo schlägt ein wie eine Bombe – und löst sich fast ebenso schnell wieder auf: Nach einer lediglich zwei Alben umfassenden Kurzkarriere ist 2018 Schluss, die beiden gehen von da an getrennte Wege. Während Nura die conscious Schiene auf ihren Solo-Projekten weiter durchzieht, schraubt Juju die Provokation ein Stück weit runter und tauscht sie gegen eine gute Mischung aus Party, Herzschmerz und Stories über den Sozialen Aufstieg. 2019 erscheint ihr Solo-Debüt „Bling Bling“, mit dem sie im Mai das zweite Mal auf Tour geht. Und wer sich vor dem Orpheum-Auftritt Insta-Footage von der Tour angeschaut hat, weiß: Das wird wild.

Und dann, die völlige Eskalation

Moshpits, kreischende Teenager, Becher, die durch die Luft fliegen: An diesem Mittwochabend lädt die Berliner Rapperin das Grazer Orpheum ein, auszurasten – und dieses nimmt die Einladung dankend an. „Habt ihr Bock auf bisschen Partystimmung hier?“ ruft sie mit ihrem Becher Tequila-Zitrone in der Hand ins Publikum (von Vodka werde sie zu aggressiv), bevor ihre Live-Band zum Track „Coco Chanel“ ansetzt. Edgy und rough klingen ihre Tracks durch grungige E-Gitarre, hämmerndes Schlagzeug und die Backing-Vocals der Deutschrap-Newcomerin Aylo – und deutlich interessanter als mit reinem DJ-Support. Apropos DJ: Der darf natürlich trotzdem nicht fehlen und ist mit Sam Salam derselbe, der schon 2017 für SXTN im Wiener Flex aufgelegt hat.

Neben Tracks ihres Debütalbums gibt Juju ein Medley an ihren Features zum Besten, den Nummer-Eins-Hit „Vermissen“ mit Henning May wird sie im Laufe des Abends gleich zweimal performen. Für das Album-Intro holt sich die Rapperin einen Fan auf die Bühne, der den Content-geladenen Track in- und auswendig kennt. Sowieso ist der ganze Saal äußerst textsicher und zeigt das natürlich auch sehr selbstbewusst.

Juju Live

Der Staudenbauer

Dann die völlige Eskalation: Die ersten Beats von „Fotzen im Club“ genügen, der Saal rastet komplett aus. Es folgt ein Throwback in die SXTN-Ära, hier Schweiß, dort Gekreische. Die älteren Besucher, die wohl als Aufpasser mitgeschleppt wurden, staunen nicht schlecht bei den doch sehr expliziten und hier nicht weiter zitierbaren Lyrics. „Falls ich umkippe hebt mich einfach wieder auf, dann mach ich weiter“, lacht Juju erschöpft ins Mikro – von Aufgeben keine Spur.

Zwischen Moshpits („Ich sehe hier gerade drei Moshpits auf einmal und das in so einem kleinen Raum!“) und erschöpftem nach-Luft-Geschnappe gibt es an diesem Abend aber vor allem eines: Realtalk. „Wer von euch wurde schon mal von seiner Mutter verlassen?“ ruft Juju in den Saal, vereinzelte Hände gehen nach oben. „Und wer von seinem Vater?“ Die Händeanzahl vervielfacht sich deutlich. „Krass. Das ist bei jeder Show dasselbe“. Komplizierte Vater-Kind-Beziehungen thematisiert die Rapperin auf „Erkläre mir die Liebe“ genauso wie toxische Liebhaber*innen auf „Ich müsste lügen“. „Da werden ja richtige Traumata geheilt heute“, stellt sie lachend fest, bevor das Set mit rockigen Gitarren-Soli und Free Shots für die Front-Row-Fans langsam einem Ende zugeht.

F*ck dein Insta

Bis es soweit ist, kommt natürlich aber noch die Pflicht-Zugabe. Piano und Akustik-Gitarre werden ausgepackt, Juju setzt sich auf den Boden. „Das ist jetzt Österreich-Shit“ sagt sie, bevor sie zum Raf Camora Feature „Wenn du mich siehst“ ansetzt – einem für sie recht ungewöhnlichen (und auch gewöhnungsbedürftigen) Track, wechselt sie dort doch in eine für sie seltsam hohe Gesangsstimme. Egal, das Publikum feiert’s.

Dann kommt endlich der Moment, auf den viele gewartet haben: Das Geheimnis um den Tournamen wird – zumindest für die, die Jujus Tour-Footage nicht schon längst auf Insta abgecheckt haben – endlich gelüftet. „Wir sind lang genug vor unseren Handys gesessen, haben uns lang genug miteinander verglichen. F*ckt das alles, f*ck dein Insta!“, ruft Juju und leitet damit ihre noch unveröffentlichte, Drill-getriebene Nummer mit gleichnamigen Titel ein. Und da kommt sie endlich wieder raus: Die provokante, hemmungslose Juju, die sich keinen Blatt vor den Mund nimmt, die „Berliner Schnauze“, mit der sie bekannt und beliebt geworden ist: „F*ck die AFD auf locker, egal wie viel Geld, du bleibst ein Opfer“ .

Juju Live

Der Staudenbauer

Es hätte ein perfekter Schluss sein können, aber sie setzt noch einen drauf. Für das Grand Finale holt Juju mit „Live Bitch“ nämlich einen ihrer energetischsten Album-Tracks ein zweites Mal hervor. „Alle rasten aus weil ich rappe grade live, Bitch / Ja ich hab es drauf, ich gehöre auf die eins, Bitch / Alle ziehen sich aus, weil ich rappe grade live, Bitch / Es tut mir Leid Bitch, ich habe grad nen Hype, Bitch“. Besser hätte ich’s auch nicht mehr sagen können. Denn wenn es ums live performen geht, ist Juju vielen Anderen wirklich eine ganze Menge voraus.

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