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Astronaut*in im Weltraum vor Erdkugel

Pixabay/Geralt

„Lektionen in Dunkler Materie“: Ursula Knolls klug konstruierter Debütroman

Eine Astronautin ist durch einen Unfall auf ihrer Raumstation gefangen; eine Mutter besetzt aus Protest den Kindergarten; eine Polizistin sabotiert Großunternehmen. Sie alle und einige andere sind Protagonistinnen im Debütroman der Wiener Autorin Ursula Knoll.

Von Jenny Blochberger

Das Geld ist knapp, der Lebensmitteleinkauf kaum finanzierbar. Der kleine Linus, der mit seiner Mutter Heide einkaufen ist, versteht nur, dass sie reizbar ist, aber nicht ganz, warum. Doch dann wird die Kassiererin von einem Tumult abgelenkt und Heide schnappt sich ihre noch nicht bezahlten Lebensmittel und läuft damit aus dem Supermarkt. An diesem Abend hat Linus eine gutgelaunte Mutter.

Doch das ist nur eine kurze Erleichterung; Heides Job passt einfach nicht mit den Kindergartenöffnungszeiten und dem Busfahrplan zusammen; egal wie sehr sie sich anstrengt, entweder muss sie zu früh aus der Arbeit – und riskiert damit den Job – oder sie kommt zu spät zum Abholen von Linus. Irgendwann reicht es ihr und sie beschließt, eine Protestaktion im Kindergarten zu starten.

„Was tun Sie da?“, fragt die Fatima und lässt sich auf einen Kindersessel fallen, der unter ihrer Jacke verschwindet.
„Besetzen“, sagt die Mama und zwinkert Linus zu.
„Besetzen“, wiederholt Linus und betastet das Wort in seinem Mund. Er kennt es nicht, auch in keiner der Kinderbuchgeschichten kommt es vor. So wie die Mama aussieht, macht sie diese Art von Sitzen aber jedenfalls viel fröhlicher als sonst.

Bunte Möbel in leerem Kindergarten

Pixabay/Engin Akyurt

Heides Ex-Frau Katalin ist Astronautin. Sie hängt noch an Heide und Linus und verbringt ihre kostbare Zeit auf Weltraummission damit, im Online-Banking-Konto der Ex herumzuschnüffeln. Dafür wird sie von Simon gemaßregelt, der auf der Station für die Einhaltung aller Regeln sorgt. Simon ist eine KI, die durch Beobachtung lernt und verfolgt Katalin deswegen auf Schritt und Tritt – was fatale Folgen hat.

Die Asylbeamtin Ines Geiger macht ihren Job sorgfältig, aber ohne viel Empathie. Die hat sie sich im Lauf der Jahre abgewöhnt. Asylwerber*innen haben alles genau so zu machen, wie vorgeschrieben, also auch über traumatische Erlebnisse zu sprechen, sonst kann ihnen Geiger leider nicht weiterhelfen. Ob sie ihnen überhaupt weiterhelfen kann, ist ohnehin fraglich, denn es dürfen ja nicht zu viele Anträge positiv beschieden werden.

„In ganz Afghanistan sind Schwiegermütter komisch zu ihren Schwiegertöchtern“, sagt die Dolmetscherin. Die Antragstellerin ergänzt etwas, Vorschriften, Einmischungen, dann schweigen beide.
Geiger steht auf und öffnet das Fenster. Warme, staubige Luft dringt ein, sie schließt es wieder. „Wie man vielleicht aus der eigenen Erfahrung sagen kann, dürfte so ein Verhalten weltweit bei Schwiegermüttern so sein. Das ist noch lange kein Grund, sich in Lebensgefahr zu wähnen“, sagt sie, während sie sich zu den beiden Frauen zurück an den Tisch setzt.
Die Antragstellerin blickt erstaunt auf, die Dolmetscherin atmet hörbar laut durch, ihre Augenbrauen zucken.

Buchcover von Ursula Knolls "Lektionen in Dunkler Materie"

Edition Atelier

„Lektionen in Dunkler Materie“ (248 S.) ist das Debüt der 1981 in Wien geborenen Autorin Ursula Knoll. Es ist in der Edition Atelier erschienen.

Doch im Verlauf der Erzählung kippt auch die eigentlich so gleichmütige Geiger und macht da nicht mehr mit – und zwar nicht leise, sondern richtig spektakulär.

Ursula Knoll baut Geschichten von Frauen in Ausnahmezuständen, richtet den Scheinwerfer auf die Momente der Explosion - und verknüpft dann die Schicksale zu einem Netz, in dem Ereignisse an einem Punkt etwas an einem anderen Punkt auslösen. Immer wieder kehren wir zu den Protagonistinnen zurück – es sind außerdem noch eine Polizistin, die heimlich die Finanzwelt aufmischt und eine Aktivistin, die sich für Landarbeiter einsetzt – und bekommen in jedem Kapitel immer weitere Mosaiksteinchen aus ihren Leben.

Dadurch, dass wir die Protagonistinnen immer aus mehr als einem Blickwinkel kennenlernen, werden die Charaktere vielschichtig - auch wenn manche trotzdem blasser bleiben als andere. Die Passagen im Weltall zum Beispiel sind eher mit Buntstiften gemalt, der Wissenschaftsjargon wirkt angelesen und teils naiv. Dagegen fühlen sich etwa die Szenen im Asylamt deutlich authentischer an.

Insgesamt ist Knolls Stil eher kühl; auch wenn ihre Figuren leiden und mentale Breakdowns haben, bleibt doch immer eine gewisse Distanz zu ihnen. Alle sind Kämpferinnen, alle sind komplizierte Charaktere, alle haben mindestens einen Moment, in dem sie nicht so funktionieren wie vorgesehen. „Lektionen in Dunkler Materie“ ist ein klug konstruierter Debütroman. Man darf gespannt auf Knolls nächstes Buch sein.

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