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Gaußplatz an der Grenze von 2. und 20. Bezirk in Wien

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Mit akzent

Die Grenze

In Wien gibt es eine unsichtbare Grenze zwischen dem 2. und dem 20. Bezirk.

Eine Kolumne von Todor Ovtcharov

Ihr habt alle schon mal Grenzen überquert. Die Grenzen in der EU sollten eigentlich unsichtbar sein, aber die Pandemie hat sie schlagartig zurückgebracht. Grenzen sind für manche lästig und für andere furchteinflößend. Es gibt kaum was Schlimmeres als einen Grenzbeamten, der einen mit eisigem Blick anschaut und „Was ist der Grund für ihren Besuch in diesem Land?“ fragt.

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Grenzen gibt es seit mehreren Jahrhunderten und sie teilen oft Menschen unterschiedlicher Sprachen, unterschiedlicher ökonomischer Entwicklungen und unterschiedlicher Bräuche voneinander. Nicht umsonst ist das  englische Wort für Zoll customs, was auch Bräuche heißt. Das kommt vom „Brauch“, etwas zu zahlen, wenn man eine mittelalterliche Stadt betreten wollte.

Ich muss täglich eine Grenze überqueren. Sie befindet sich innerhalb Wiens und ist eigentlich unsichtbar. Doch sie hat alle diese Merkmale, die ich aufgelistet habe. Unterschiedliche Sprachen, unterschiedliche Bräuche, unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung und so weiter. Das ist die Grenze zwischen dem 2. und dem 20. Bezirk.

Auf der eine Seite der Grenze ist die Welt voll mit Menschen, die unaufhörlich Latte mit Hafermilch trinken. Sich eine Melange mit gewöhnlicher Kuhmilch zu bestellen, gilt hier als Bruch der guten Manieren. Die Bewohner essen täglich Avocado-Toast und schlürfen Ramen-Suppen. Sie haben ihre Kinder auf Fahrräder geladen, die oft für sie handgefertigt wurden und  die mehrere Tausend Euro kosten.
 
Mir tun die Fahrraddiebe leid: Wo könnten sie diese Fahrräder denn verkaufen, falls sie sie stehlen? Auf jeden Fall nicht auf der anderen Seite der Grenze, die ich beschreibe. Hier wirst du mit so einem Fahrrad nur ausgelacht. Hier werden Stereoanlagen hochgeschätzt. Ich habe einmal einen gesehen, der vorne auf seinem Fahrrad eine Stereoanlage aufgebaut hatte, mit einer ganzen Autobatterie hinten, um sie zu betreiben. Er spielte lockere orientalische Musik. Das wurde von allen gutgeheißen, Onkels, die in den Parks Karten spielten, begrüßten ihn mit Zustimmung und Jugendliche mit Energydrinks in ihren Händen hoben diese in die Höhe.

Der Hafermilchlatte auf dieser Seite der Grenze ist der Energydrink. Ich sah neulich Menschen, die ihrem dreijährigen Kind zur Stärkung einen Energydrink gaben. Hier ist jedes dritte Geschäft ein Friseursalon. Die gleiche Straße mit zwei unterschiedlichen Welten. Morgens leuchtet die Sonne auf die eine Seite, nachmittags auf die andere. Denn: Hätte der Fluss nicht zwei Ufer, könnte  er nicht nach vorne fließen.

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