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David Bogner

Die Bedrohung des Hedofatalismus

Die größte Gefahr für den Fortbestand der Menschheit: sich der Welt ergeben und es sich dabei möglichst gut gehen lassen, weil eh schon alles verloren ist.

Ein Gastbeitrag von David Bogner

Eigentlich sollten wir gerade mitten im Hot Girl Summer sein. Der erste Sommer nach der Pandemie, der wegen Omikron schon einmal verschoben werden musste. Endlich wieder unbeschwert leben — mittlerweile schon fast ein wenig egal ob mit oder ohne Impfung. Jetzt stellen wir fest: Wir haben uns geirrt.

David Bogner

Daniel Gebhart de Koekkoek

David Bogner hat nach seiner Zeit bei VICE gemeinsam mit Philipp Papapostolu die creative agency papabogner gegründet, wo immer wieder Reading Lists zum Thema Pop, Kommunikation und Politik veröffentlicht werden.

Dass Corona vom Verschwinden weit entfernt ist, ist dabei sogar noch das geringste Problem. Stattdessen rückt immer mehr ins Bewusstsein, dass die alles beherrschende Pandemie nur ein kleiner Teil unserer Herausforderungen ist. Aus dem Hot Girl Summer wird der Hottest Summer of your Life.

Dabei haben wir uns an die Wetterkapriolen und Extremzustände sogar schon ein wenig gewöhnt. Was aber immer präsenter wird, ist die Aussicht auf einen massiven Wandel. Das ist es, was uns bewusst und unbewusst immer mehr Sorgen macht: Es wird nicht mehr besser. Im Gegenteil.

Und ist es nicht nur der Klimawandel. Haben wir im Winter genug Gas zum Heizen? Was macht die Inflation? Wird die Welt eine noch nie dagewesene Hungersnot heimsuchen? Gefolgt von einer gewaltigen Flüchtlingskrise?

Während die Politik vermitteln will, es sei alles unter Kontrolle, dämmert uns immer mehr, dass es hier nur um Beruhigung geht. Noch schlimmer ist eine andere Erkenntnis: Das Unvermögen der Regierungen, uns durch die Krisen des 21. Jahrhunderts zu steuern, hat weniger mit Unfähigkeit zu tun. Auch das hat Corona ausgesprochen deutlich gezeigt. Es gab einfach keinen richtigen Weg durch die Krise.

Alle Bewertungen waren nur Momentaufnahmen, in denen die Welle gerade entweder ganz oben oder ganz unten war. Keine Staatsform hat sich eindeutig als am besten geeignet erwiesen, um durch die Krise zu kommen, auch wenn es Momente gab, als wir voller Neid auf die autoritäre Durchsetzungsfähigkeit der Chinesen geschaut haben. Doch nur kurze Zeit später hatten sich Bevölkerung und Expert:innen schon wieder auf das genaue Gegenteil geeinigt. Der schwedische Weg oder der österreichische? Alles eine Frage der Auslegung.

Dabei war unsere Welt schon früher nicht mehr vorhersagbar und, noch schlimmer, auch nicht steuerbar geworden. Wir wollten es nur nicht sehen. 9/11, Lehman Brothers, die Flüchtlingskrise 2014, Trump, der Brexit und die Farce rund um die Klimakrise sind Belege für eine verrückt gewordene Welt, die aus den Fugen geraten ist. Corona und die aktuellen Entwicklungen rund um die Inflation sind nur die jüngsten Beispiele.

Auf wen können wir uns verdammt noch einmal verlassen? Nur auf uns selbst.

Man kann durchaus argumentieren, dass das noch nie anders war: Dass wir schon immer schlafwandelnd von der einen Katastrophe in die nächste getorkelt sind. Aber eine Kombination aus Globalisierung und Social Media hat diese Entwicklung noch einmal beschleunigt und die Folgen schwerwiegender gemacht: Im 21. Jahrhundert gibt es keine isolierten Ereignisse mehr. Je mehr alles miteinander vernetzt ist, desto anfälliger ist das System selbst bei kleinen Irritationen.

Was bleibt uns also übrig, wenn nach Gott jetzt auch noch die Eliten und Institutionen tot sind? Auf wen können wir uns verdammt noch einmal verlassen? Nur auf uns selbst.

Je nach Sichtweise ist das die letzte, ultimative Kränkung oder eben das genaue Gegenteil: Dank des Internets haben wir Zugang zu so viel Wissen wie noch nie. Wir können zuhören, lernen und wachsen (wie es so schön in allen Entschuldigungen der letzten 10 Jahre heißt, die etwas auf sich halten) und dann - so gut es geht - danach handeln.

Diese Argumentation ist gerade in einem linken Diskurs nicht besonders populär, der einen starken Staat in der Verantwortung sieht, der wiederum den Markt steuert. Aber darauf zu warten, ist genauso vergeblich wie hoffnungslos. Eine Änderung ist nur möglich, wenn jede:r einzelne sich der Macht des eigenen Tuns bewusst wird.

The Great Resignation hat weniger mit einer Abkehr vom Kapitalismus zu tun, als mit einer Hinwendung zum Hier und Jetzt, weil der Glauben an ein besseres Morgen schon verloren ist.

Die Alternative – und damit die größte Gefahr für den Fortbestand der Menschheit und des Planeten - ist ein Hedofatalismus, der immer weitere Kreise zieht. Ein sich der Welt ergeben und es sich dabei möglichst gut gehen lassen, weil eh schon alles verloren ist. Es ist die wehleidige Weiterentwicklung eines Individualismus, der zwar den Einzelnen in den Mittelpunkt stellt, aber ohne die daraus entstehende Macht und Verantwortung mitzudenken.

Die Zeichen dafür sind weit sichtbar und unzählig: The Great Resignation hat weniger mit einer Abkehr vom Kapitalismus zu tun als mit einer Hinwendung zum Hier und Jetzt, weil der Glaube an ein besseres Morgen schon verloren ist. Lieber nicht die Zeit mit Arbeiten verschwenden, weil wer weiß, wie lange das alles hier noch gut geht. Und selbst in den Drogen setzt sich der Zeitgeist durch: Wer hat noch Lust auf Kokain oder Speed, wenn es Xanax gibt? 2022 sollen Drogen nicht produktiver machen, den Horizont erweitern oder die Freude am Leben unterstreichen. Jetzt helfen sie beim Verdrängen und kommen auf Rezept.

Die Wut der Gen Z auf die Boomer ist nachvollziehbar, aber nicht die Konsequenzlosigkeit, die darauf folgt. Wer es ernst meint, müsste auch auf die Früchte des über Jahrzehnte erarbeiteten Wohlstands verzichten. Der basiert nämlich nicht nur auf der Zerstörung des Planeten und jahrhundertelangem Kolonialismus, sondern natürlich auch auf billigem Gas aus Russland, das unter anderem den Kampf gegen Gay Europe finanziert. Wie dieser Kampf ausgeht, das hängt vor allem von uns selbst ab.

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