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Die Tür zu Downing Street 10, dem Amtssitz des britischen Premiers

APA/AFP/CARLOS JASSO

ROBERT ROTIFER

Bye bye Teil 2 - ist Boris Johnson wirklich futsch?

Er sei so traurig, den „besten Job der Welt aufzugeben“, sagt er. Und tut dann eigentlich nichts dergleichen. Wieso es eigentlich unwahrscheinlich ist, dass Boris Johnson ausgerechnet bei seinem Abgang zum ersten Mal hält, was er verspricht.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Es ist also vorbei. Boris Johnson ist also zurückgetreten – Nein, ist er nicht.

Okay, er wird zurücktreten – Wird er?

Na hat er doch gesagt – Genau. Das bedeutet bei ihm üblicherweise, dass das Gegenteil passiert.

Also was jetzt?

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Was indeed. Falls es einer Erklärung bedarf, wie wir an diesen Punkt gelangt sind, da sich die gesamte Presse Großbritanniens heute morgen vor der schwarzen Tür mit der Nummer 10 drauf versammelte, während – frei nach Ionesco – die Analyst*innen analysierten, bevor es noch was zu analysieren gab: Darf ich auf die gestrige Kolumne hier verweisen?

Da versuchte ich eine Erklärung der Relevanz der Affäre rund um den von Johnson beförderten Grapscher namens Chris Pincher bzw. von Johnsons Behauptungen, er habe nicht gewusst, dass dieser Pincher, ein „pincher“ im wörtlichen Sinn (Grapscher) sei, als er jenen zum stellvertretenden Klubobmann der konservativen Fraktion („Deputy Chief Whip“) beförderte. Und das, obwohl sich Kolleg*innen lebhaft daran erinnern, dass er, Johnson, jenen Pincher selbst als „Pincher by name, pincher by nature“ zu bezeichnen pflegte.

Ich muss an dieser Stelle meine gestrige Berichterstattung allerdings ein wenig korrigieren, denn genau genommen ist ein Grapscher in der wörtlichen Übersetzung ja ein „groper“. Ein „pincher“ ist dagegen eher ein Zwicker (etwa im Sinne von „bottom pincher“). Pinchers bevorzugte Form der sexuellen Belästigung seiner – männlichen – Opfer ist wiederum, den vielen vorliegenden Beschwerden Betroffener zufolge, eher das, was man gemeinhin als „Ausgreifen“ bezeichnet.

Und das will ich gar nicht kleinreden hier.

Nur: Um ehrlich zu sein, musste ich gestern beim Erzählen der Geschichte ganz schön viel weglassen, was die Aufzählung von Johnsons Skandalen und Verfehlungen anlangte. Einfach, weil’s dann irgendwann zu viel wird – das ist übrigens auch genau der Grund, warum hier drüben die Leute abdrehen, wann immer sie von den neuesten Anschuldigungen gegen Johnson hören.

Weshalb es dann beispielsweise schon gar nichts mehr ausmachte, als bekannt wurde, dass der Premierminister einst, als er noch Außenminister (Foreign Secretary) war, laut einem Bericht der Times seine damalige Liebhaberin und heutige Frau Carrie zur Personalchefin im Foreign Office machen wollte.

Auch dass die Times diese Story auf Druck aus der Downing Street wieder von ihrer Website löschte und aus späteren Printausgaben derselben Nummer entfernte, als lebten wir unter der Zensur eines autoritären Systems, interessierte außerhalb journalistischer Kreise schon niemand mehr.

So läuft – ich hab gestern schon die kognitive Dissonanz erwähnt – die Abstumpfung der Öffentlichkeit, die stetige Erosion der Grenzen des Erträglichen (wie euch wohl nicht ganz unvertraut), freilich nur ganz spezifisch geltend für Leute wie Johnson und selbst dann offenbar nur in bestimmten Fällen.

Um wieder darauf zurückzukommen, dass ich hier ja nichts kleinreden will, aber:

Es ist schon interessant und irgendwie vielsagend, dass das Vergehen Johnsons, bei dem schließlich seinen Kolleg*innen die Hutschnur platzte, eine interne Tory-Angelegenheit ist, die männliche Parteiaktivisten betrifft (nur um hier mit Verspätung eine Antwort auf die heikle rhetorische Frage in meiner gestrigen Kolumne zu geben, warum dagegen etwa Johnsons eigene Grapschereien bis heute völlig folgenlos geblieben sind).

So oder so brauchte der Premierminister heute nicht allzu viel von seinem angeblichen Charme einzusetzen, als er schließlich vor die Journaille und die ebenfalls an der Downing Street versammelten Reihen standhaft loyaler Parlamentarier*innen trat. Die strahlten schon vor seinem Eintreffen, als wär’s ein Kindergeburtstag.

Und das war es ja auch, denn noch während wir am Morgen die Namen der über 50 Regierungsmitglieder hörten, die zurücktraten, um damit wiederum Johnsons Rücktritt zu erzwingen, hatte jener offenbar ganz ungeniert die freigewordenen Posten unter dem geschrumpften, treuen Rest seiner Parlamentsfraktion aufgeteilt. Für sein Übergangskabinett, das nun regieren soll, solange man es lässt.

Aber nicht nur die so Beschenkten grinsten, auch die Journalist*innen waren gleich wieder ganz verzaubert, als sich Carrie Johnson mit vor die Brust geschnalltem Baby ins Spalier stellte, um ihrem Mann bei der Rede zuzuhören. Ich war bei meinem Channel-Hopping gerade auf Sky News hängen geblieben. „Oh, she’s such a sweet baby,“ jauchzte die Berichterstatterin Beth Rigby ganz entrückt, „and doesn’t Carrie look lovely in that red dress?“

Den ganzen Morgen hatten die Analyst*innen damit verbraucht, Parallelen zwischen Johnson und Trump zu ziehen, an seiner geistigen Gesundheit zu zweifeln, darüber zu unken, was er in der Parallelwelt seines Bunkers ausbrütete. Und kaum stand der Blender leibhaftig vor ihnen, schien es schon wieder gar niemand mehr sonderlich zu stören, dass die angekündigte Rücktrittsrede eigentlich gar keine war.

Er habe seine Fraktion davon zu überzeugen versucht, sagte Johnson, dass es „exzentrisch“ wäre, die Führung zu wechseln, wo man gerade so viel vollbringe und in den Umfragen zur Mitte der Amtszeit nur „eine Handvoll Punkte“ (in Wahrheit eher zehn Prozent) hinten liege, aber „ich bedauere mit diesem Argument nicht erfolgreich gewesen zu sein“, sagte Johnson, denn „der Herden-Instinkt ist mächtig, und wenn die Herde sich einmal bewegt, dann bewegt sie sich weiter.“

Wenn das noch nicht genug danach klang, als hielte er seine abtrünnigen Kolleg*innen für tumbe Herdentiere, dann setzte er noch einen drauf: „Unser brillantes und Darwinistisches System wird einen anderen Führer hervorbringen“, meinte er. Dem ukrainischen Volk, als dessen Retter Johnson sich gern stilisiert, sprach er – zum unbewussten Beweis seiner tatsächlich grenzenlosen Hybris – in dieser schweren Stunde seines Abgangs Hoffnung zu. Vor allem aber sollten wir alle wissen, wie traurig er sei, den „besten Job auf der Welt“ aufzugeben, “but them’s the breaks” (so sind die Launen des Schicksals).

Null Einsicht seiner Fehler. Null Entschuldigung für seine Lügen. Stattdessen ein Schlusssatz mitten aus dem Zentrum des Paralleluniversums seines endlosen Egos: „Our future together is golden.”

Also, was jetzt? Ist Boris Johnson zurückgetreten? Technisch gesehen: Nein.

Und man sollte nicht vergessen: Das ist jener Typ, der 2019 zeitweilig das Parlament außer Kraft setzte, um seinen Brexit-Deal mit autoritärer Gewalt durchzubringen. Der danach zur Provokation von Neuwahlen alle seine Parteigegner*innen im Unterhaus aus der Parlamentsfraktion warf. Johnson ist tatsächlich zu allem fähig, nur – nach meiner Vorstellungskraft – nicht dazu, als neutraler „caretaker“ seine Amtszeit würdig zu Ende zu führen und – wie versprochen - „mein*e Nachfolger*in“ zu unterstützen.“

Tut mir leid, aber vorbei ist da noch gar nichts. Diese Kolumne wird noch einen dritten Teil brauchen. Allermindestens.

Einstweilen bleibt diese Charakterstudie immer noch aktuell:

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