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Nick Cave

Dušan Škubák

festivalradio

O children, lift up your voice

DAS große Festival für Leute, die keine großen Festivals mögen, aber dennoch Headliner vom Format Nick Cave oder The Libertines sehen wollen. Was macht das Pohoda Festival im slowakischen Trenčín nur so richtig?

Von Katharina Seidler

Everyone has a heart and it’s calling for something
We’re all so sick and tired of seeing things as they are
Horses are just horses and their manes aren’t full of fire
The fields are just fields, and there ain’t no Lord
(“Bright Horses” – Nick Cave)

Nihilist und hoffnungsvoller Prediger der Liebe, das sind die zwei Pole, zwischen denen sich der Musiker Nick Cave – und, wie es scheint, in allergrößter Annäherung von Persona und Person auch der Mensch Nick Cave bewegt. Im Lauf seines Lebens und seiner Karriere hat er god knows so einige Tiefs durchgemacht, Pete Doherty wird am nächsten Festivaltag einige dieser Erfahrungen teilen, aber den Verlust auch eines zweiten seiner vier Söhne vor wenigen Wochen macht Caves Geschichte des Schmerzes noch einmal verstärkt präsent. Umso erstaunlicher, ihn auf der derzeitigen Tour so voller Elan auf der Bühne zu sehen, in Glitzersocken und wie immer perfekt sitzendem Anzug, und umso schöner, wenn man begreift, dass er die Verkörperung all dessen ist, was von der kraftspendenden, transzendierenden Macht von Musik und Livemusik immer geredet wird.

Nick Cave

Dušan Škubák

Wenn Nick Cave die Hände der Fans in den vorderen Reihen greift, sich auf sie lehnt, sie abklatscht und schüttelt, dann hält er sie ebenso, wie er gehalten wird. Es ist ein geradezu gleichberechtigtes Geben und Nehmen. Diese Kunst verklausuliert nichts, sie sagt ganz klar: Hier, das ist Liebe. Das ist Schmerz. Hier bin ich, und dies ist meine ausgestreckte Hand, und jetzt sind es wir. Gerade auf seinen jüngeren Alben wird diese Unverstelltheit auch in den Lyrics deutlicher. Oft bestehen die Texte nur aus wenigen, simplen Zeilen; beim Konzert werden sie wieder und wieder gesungen: „I am beside you, I am beside you, look for me, look for me“, heißt es etwa in „Ghosteen Speaks“, oder, zwei Jahre zuvor: „I need you, in my heart, I need you“.

Nick Cave

Dušan Škubák

Bevor es allzu andächtig wird – „Into my arms“ etwa wird im kollektiven Chor der Zehntausend geradezu zum Weihnachtslied – lockert Nick Cave die Stimmung in seinen Zwischenansagen auf. „D‘akujem“, bedankt er sich korrekt beim slowakischen Publikum, Nachsatz: „it took me all fucking day to learn that.“ Das gospelhafte „O children“ vom unterschätzten Doppelalbum „Abbatoir Blues / The Lyre of Orpheus“ widmet er allen Kindern und ganz im Speziellen dem Kind in der zweiten Reihe: „Or maybe it’s just a little person.“

Well, this world is plain to see
It don’t mean we can’t believe in something
(“Bright Horses” – Nick Cave)

Pohoda Atmo

Martina Mlčúchová

Neben der Hauptbühne ist beim Pohoda Festival ein kreisrundes Sonnenblumenfeld.

Was, wenn Kunst nicht für Eskapismus steht, sondern für sein Gegenteil, für das ständige Konfrontieren mit den eigenen Dämonen und der Welt? Das Pohoda Festival versucht diesen Spagat anhand von etwa zahlreichen Panels und Diskussionen, über Cyber Security, Teuerungen und Hunger, Narzissmus in der Politik und natürlich, immer wieder: über den Krieg. Das slowakische Nachbarland Ukraine ist im diesjährigen Lineup mit einem Schwerpunkt vertreten. Während das ukrainische Ethnopop-Kollektiv DakhaBrakha seinen Auftritt wegen, achja das gibt’s auch noch, Corona absagen musste, spielen der aufsteigende Rap-Superstar Alyona Alyona oder die Songcontest-Darlings Go_A mit ihrem grotesken Folktechno umjubelte Konzerte; auch das Luhansk Philharmonic Orchestra steht auf dem Programm.

libertines

Martina Mlčúchová

Auch andere Artists versuchen sich an politischer Agitation; im Falle der wiedervereinten Libertines treibt dies, in letzter Zeit offenbar so üblich bei ihren Konzerten, dann so ausgefallene Blüten wie einen Mitmach-Chor mit den Worten „Wolodymyr Selensky“ zur Melodie von „7 Nation Army“. Aber es ist gut gemeint! The Libertines jedenfalls, bei denen man früher um jeden Auftritt und den Zustand ihres Frontmanns zittern musste, spielen beim Pohoda Festival, pünktlich und souverän, ein beinahe perfektes Konzert. Die Dynamik der vier Gründungs-Mitglieder ist unumstritten, ihr Blumenstrauß an Hits auch im zwanzigsten Jahr nach dem Debütalbum „Up the bracket“ mitreißend und im Prinzip eigentlich von Weggefährten unerreicht, und Pete Doherty, man hat davon gehört, in der Form seines Lebens.

libertines

Martina Mlčúchová

Eine Zeit lang werden The Libertines es wohl noch über sich ergehen lassen müssen, an ihrer holprigen Vergangenheit gemessen zu werden, aber der Schwung, mit dem sie derzeit in die Zukunft und auch in Richtung des nächsten, in Anlehnung an den The Clash-Klassiker „Sandinista!“ offenbar in Jamaika aufgenommenen Albums blicken, wird zweifellos bald ein endgültig neues Libertines-Kapitel aufschlagen.

I’m reversing down the lonely street
cheap hotel where I can meet the past
pay it off and keep it sweet.
(“Death on the stairs” - The Libertines)

Pohoda Atmo

Martina Mlčúchová

Did you see the stylish kids in the riot?

Was man noch über das Pohoda Festival wissen muss: Es gibt ca. acht Bühnen, ständig spielt aber irgendwo noch jemand auf einem herumstehenden Flügel oder singt Karaoke auf einem Bus, so genau kann man die Anzahl also nicht bestimmen. Zwischen Reihen aus Essenständen und wirklich begehrenswerten Platten, Merch Shirts und slowakischer Designermode spazieren Menschen auf Stelzen, junge Paare, glitzernde Freundinnengruppen, alternde Rock’n’Roller, ganze Familien. Man kann sich kaum ein anderes Festival dieser Größenordnung vorstellen, mit Headlinern aus den obersten Riegen der alternativen Popmusik, wo kleine Kinder und Hunde so entspannt zwischen Clubkids und Superfans herumlaufen, und auch kein anderes Event, bei dem man so unbekümmert am Boden und an Zäune angelehnt sitzen wollen/können würde. Es riecht gut!

Pohoda Atmo

Martina Mlčúchová

Am Getränkestand kann man sich die Promilleanzahl des Biers aussuchen, es kostet wenig und hat ebensowenig Alkohol, ansonsten gibt es nur Wein, und Wasser wird gratis ausgeschenkt. Demensprechend brüllt niemand herum, bewertet vorbeigehende Frauen nach einem Punktesystem oder lässt seinen Müll, Zelt, Kühlschrank zurück; es ist auf fast schon gespenstische Weise harmonisch. Pohoda, das heißt auf Slowakisch so etwas ähnliches wie Hakuna Matata.

Black Country

Dave Mariancik

Black Country New Road 2.0

Unter der lauen Sommersonne, im frischen Wind am Flugfeld, sieht man an diesem Wochenende etwa noch die britischen Formenwandler Black Country, New Road in ihrer neuen Inkarnation als Sextett, minus ihren früheren Sänger Isaac Wood, der die Band Anfang des Jahres, auf dem bisherigen Höhepunkt ihres großen Hypes, verließ. Die neuen Black Country wechseln sich am Mikrophon nun ab. Den Existenzialismus früherer Monumentalsongs haben sie in ihrem zur Gänze aus neuen Stücken bestehenden Set hinter sich gelassen zugunsten einer neuen, lieblichen Folkigkeit.

Die Querflöte singt wie ein Vögelchen und scheint von alten britischen Folkloremärchen zu erzählen, stellenweise kippen die neuen Songs mit ihren raschen Rhythmuswechseln gar ins Musicalhafte, und diese frische Wunderkiste an Ideen, die die sechs jungen Musiker*innen in nur wenigen Monaten aus dem Ärmel geschüttelt haben, lassen mitunter ein wenig ratlos zurück. Auf ihre blumige Phase wird in diesem höchst lebendigen Organismus von einer Band aber zweifellos bald etwas Anderes folgen.

Slowthai beim Pohoda Festival

Lucia Kotrhová

Slowthai

Später in der Freitagnacht blickt Slowthai scheinbar ungläubig auf ein tosendes Zelt. Ein junges Mädchen aus dem Publikum rappt für ihn in „Cancelled“ textsicher die Verse von Skepta, bei „Doorman“ gibt es sowieso kein Halten mehr und die Atempausen zwischen „Nicotine“ und „can’t quit it“ erweisen sich als perfekte Firestarter für ein abschließendes Dancefeuerwerk. Als Zugabe lässt Slowthai seinen DJ den Song „Barbie Girl“ von Acqua in voller Länge einfach spielen, der Rapper selbst tanzt dazu auf der Bühne zum Publikumschor. „This has been my favourite show in a fucking long time”, sagt er zum Abschluss. In zwei Fahrtstunden erreicht man dieses Festival vom Osten Österreichs. Es gibt in dieser Gegend nichts Vergleichbares.

PS. Flume war grauenvoll. Das Konzept eines Sunnyboy-DJs allein auf der Megabühne scheint hier wirklich überholt.

Yves Tumor

Dave Mariancik

Auch sehr gut, wird hier aber nun nicht mehr näher beschrieben: Yves Tumor.

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