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W1ZE mit Engelsflügeln auf der Bühne des Popfests

Patrick Wally

festivalradio

You can’t bring down a queen

Das 13. Wiener Popfest ist eröffnet, die Königin der Nacht heißt W1ZE. Gedanken zum ersten Festivalabend.

Von Lisa Schneider

„Wir versprechen keinen Sommer wie damals“, liest man auf der Website des Popfests zur heurigen, 13. Ausgabe des Festivals. Zwischen Pandemie, Krieg und Höchstinflation klingt das nachvollziehbar - und obendrauf: Wer erwartet das schon vom Popfest? Hier wird im besten Fall (wach)gerüttelt und an gängigen Klischees gezerrt, was die Musik und was die Gesellschaft angeht. Das Popfest ist eine wichtigste Rundschau der österreichischen Musikszene, ist ein Statement, ein Pflaster, ein Augenöffner und ein Gemeinsamsein. „Schauts aufeinander“, heißt es in der kurz, cool und knackig gehaltenen Eröffnungsrede der diesjährigen Kurator*innen Dalia Ahmed und Andreas Spechtl auf der Seebühne.

Das Popfest kehrt heuer zurück auf den Karlsplatz. Nach dem einmaligen, sehr gut geglückten Ausweichmanöver 2021 in die Arena Wien ist es wieder dieser eine der wenigen öffentlichen Plätze Wiens, der auch sonst wichtiger (Jugendkultur-)Treffpunkt war und ist. Zu den obligatorischen Spielstätten wie der großen Seebühne oder, am letzten Tag des Fests, der Karlskirche selbst, kommen heuer diverse Locations am TU-Campus sowie in der Künstlerhaus Factory dazu. Auch der Karlsgarten und der Club-U unterm Otto-Wagner-Pavillon werden bespielt.

Die Seebühne eröffnet am ersten Festivalabend Kerosin95, inklusive Kirchenglockengebimmel im Hintergrund, weil da mal wieder der Platz gesegnet wurde. „Hob i jetzt den support der Kirche? Von mir aus wär’s ned g’wesen, aber okay!“ Es macht aber auch (fast) nichts, bald ist es vorbei und der Sound, egal, auf welchem Asphaltfleckerl oder hinter welchem Baum vor der Seebühne man sich platziert hat, ist im Vergleich zu den Vorjahren viel besser. Livemusik ist die beste Musik.

2019 ist Kerosin zuletzt am Popfest aufgetreten, damals vor kleinem, aber hingerissenem Publikum im aktuell in Renovierung begriffenen Wien Museum. Mittlerweile folgen Kerosin95 allein auf Instagram fast 12.000 Menschen, und das, weil Kem Kolleritsch nicht nur Musik, sondern vor allem auch Aktivismus betreibt. Der Auftritt am Popfest ist eine Widmung an die trans*community, ein lauter Aufruf zur Raumeroberung. „Ich bringe aggressives Kerosin in meim Kanister / TERFS kriegen von mir gar nix außer Mittelfinger / Es gibt endlich auf die Fresse, das geschieht euch Recht / Ich und meine trans* cuties feiern heut ein Fest“, lautet es im Titelsong der aktuellen EP „Trans Agenda Dynastie“.

Wut ist hier die Pose und gleichzeitig die Realität. Wut, die vielleicht nicht immer den richtigen Ton trifft, aber das Richtige will: Inklusivität und Selbstbestimmung, Sicherheit für trans* Menschen, wovon Kem laut Bühnenaussage „in Wien nichts spürt“. Die Lyrics sind dementsprechend zugespitzt, da bleibt keine Zeit für Interpretationsmöglichkeit, schöne Hooks und noch schönere Melodien. Es geht um alles, am Ende aber trotzdem auch ein bisschen Richtung Eurodance. Er hat noch jeder Party gut getan.

Auch im Pop geht ohne gute Inszenierung und Marketing so gut wie nichts mehr, beziehungsweise war das eh schon immer so. Greifen wir hoch: Was und wo wären David Bowie ohne Ziggy Stardust, Mick Jagger ohne Sex oder Björk ohne allem, was Björk so macht? Im besten Fall wird da eine arge, andere Welt verkauft, zumindest aber eine Idee, die außerhalb der eigenen (bequemen?) Lebensrealität liegt. Die Pose ist essenziell, betont auch Kurator Andreas Spechtl im Interview. Dass Kerosin95 den seit den späteren 10er Jahren als neuen Pop gefeierten HipHop als Genre ausgesucht hat, dient der Sache. Mit auf der Bühne ist DJ Olinclusive, der um sein Leben scratcht. Dazu der Kommentar von FM4 Tribe Vibes Kollegen Stefan Trischler: „Das ist wohl die realste HipHop-Show am ganzen Popfest."

Das mit der Betrachtung anderer Lebensrealitäten, sofern man es am Popfest noch hinauszögern mag, bietet sich ab dem kommenden Herbst an. Während die ein oder andere noch überlegt, doch wieder zurück aufs Land zu den Eltern und den heizungstechnischen Einsparungen zu ziehen, tragen Euroteuro die prophetische Philosophie eh schon ewig im Bandnamen.

Das mit ihrer Liebeserklärung an italienische Tankstellen „Autogrill“ bekannt und beliebt gewordene Kollektiv ist zum Duo geschrumpft und pflegt immer noch wunderbaren Scheißdrauf-Hedonismus, alles darf möglichst lässig bleiben. Zumindest auf Platte. „Volume II“ nennen Peter T und Katerina Maria Trenk (kein Popfest, oder sehr wenige, ohne sie!) dahingehend das aktuelle Album, darauf sind frei nach der Bartleby-Maxime „I would prefer not to“ schöne Titel wie „Sag alles ab“ zu finden. Was soll man noch wollen. Die Kündigung! Euroteuro spielen gegen die Leistungsgesellschaft, und dass das kein Zuckerschlecken ist, sieht man daran, dass sie sich auf der Bühne abrackern wie keine andere Band. Sie teilen gutmütige Lufttritte aus, flitzen von links nach rechts, „gell, merkt’s eh, die Bühne is a bissi zu groß für uns!“

„Wir spielen ‚Autogrill‘ eigentlich nur mehr dann, wenn’s vom Publikum verlangt wird, immerhin haben die ja gezahlt für ihr Ticket“, sagt Peter T im FM4 Interview. Naja, aber: Das Popfest ist nach wie vor, und das ist sehr gut so, gratis für alle, die dabei sein wollen. „Dann spielen wir’s vielleicht, um den Leuten eine Freude zu machen.“ Die hatten sie.

Während sich das Publikum am Eröffnungsabend also zumindest für einige Stunden nicht den Kopf über die Euroteuerung machen muss, macht es die nächste Band schon auch. Friedberg singen in ihrer aktuellen Single von Mieten, die sie nicht bezahlen. „Never gonna pay the rent“ folgt hervorragenderweise gleich auf die Ansage „Wir lieben ja Euroteuro“.

Vielleicht wäre es jetzt ein kluger Moment, von London zurück nach Österreich zu ziehen, Anna Friedberg und ihre Kolleg*innen Emily Linden, Cheryl Pinero und Laura Williams würden wahrscheinlich schmunzeln über die Gaspreise, über die wir bald stöhnen. Es geht ihnen aber sonst gut da, im abgekapselten, politskandalgebeutelten UK (schon wieder: fast wie zuhause): Friedberg sind gerade erst als Support Act von Hot Chip auf USA-Tour gewesen. Mama, Papa, Schwester stehen im Publikum, das ist ein bisschen wie Homecoming. Ein bisschen nervös waren sie schon, erzählen Friedberg vor der Show, vor dem Publikum zuhause spielen ist schon noch immer ärger als irgendwo in Nashville, wo einen niemand kennt.

Dabei ist Friedberg die Band von internationalem Format, die das Line-up auf der Seebühne am Donnerstag um die gute, psychedelisch angehauchte Gitarrennische ergänzt. Die vier Musikerinnen haben außerdem, schon Jahre bevor das Bandformat in den letzten Monaten auch hierzulande wieder en vogue geworden ist (Bilderbuch?), ihre Lieder frei nach dem Motto Proberaumsession aufgenommen. Die Cowbell ist vielleicht das schönste Bühnen-Mitbringsel des Abends, und „Go Wild“ sowieso der beste Song, der vor der allerletzten die eigentliche Zugabe war. Eine elegante Aufforderung Richtung Popfest, es ist der erste Abend, das ist erst der Anfang.

Den Abschluss-Gig des ersten Abends Popfest 2022 auf der Seebühne spielt schließlich W1ZE, und das mit einer tatsächlich „amazing ass“ Band. Schaut man genau hin, erkennt man da einige bekannte Gesichter, an den Decks und Percussions etwa Rapperin Skofi, an den Gitarren unter anderem Sakura oder Joe Traxler. Dacid Go8lin, selbst eine gute Popfestbekanntschaft seit langem, saust herum und macht Fotos auf der Bühne. Das ist auch so ein Bild für die Popfest-Ewigkeit, wie sich hinter dem, was wir hören, sehen, streamen, zuallererst Menschen zusammenfinden, um gemeinsam zu arbeiten. Die gut vernetzte österreichische Popwelt, vor allem natürlich hier in Wien. W1ZE selbst ist eine Erscheinung in Strahleweiß, von den Hotpants zum Croptop zu den ellenlangen Cowboyfransen ihres Outfits bis hin zu den (Engels-)Flügeln, die sie am Rücken trägt. Glory, glory.

„Are you ready to get sexy with me?“, fragt W1ZE nach einer Handvoll Songs das Publikum. Schon, ja. Sex als Motto der Liveshow, da sind wir wieder bei der guten Pop-Pose. Und das hat gerade hier, auf der Seebühne, schon öfter gut gepasst. 2019 etwa stand da oben ein junges Ausnahmetalent namens Lou Asril, seine Texte sind zwar subtiler, aber deshalb nicht weniger explizit. Der Respekt, den es verschafft, so offen nicht nur über die eigene Identität und Sexualität zu singen, sondern den Akt an sich, ist fast schon unfassbar schön. Schieben wir diesen Eindruck und das Wow-Gefühl auf Erziehung und Tabus und nicht mal unbedingt das Alter. Weil, was steckt hinter einem Menschen, der so unumwunden mit all things sex umgeht? Jemand, der nicht nur durch die Wörter an sich („I’ve got the real juice“), sondern durch die Tatsache, sie auszusprechen, sagt: Ich bin frei.

W1ZE betreibt damit vielleicht eine der schönsten Arten des Widerstandes des gestrigen Abends. Gegen gesellschaftliche Normvorstellungen, gegen vorgefertigte Beziehungen, gegen festgefahrene Verhaltensweisen in Beziehungen und im Bett. Es muss nicht immer nur der Zorn sein, auch mit Optimismus und Empathie kann man seine hater in die Knie zwingen, denen W1ZE mehrere Songs widmet. Hier wird aufbegehrt und gleichzeitig ins Boot geholt, „I love you"s und Kusshände verteilt, alles strahlt und W1ZE selbst am hellsten. Hier wird eine andere, queere Welt aufgemacht, bis hin eben zu dem Punkt, an dem Kunst aus einer neuen Erfahrung heraus entsteht.

„Wir versprechen keinen Sommer wie damals“ ist damit das einzige Nicht-Versprechen, das das Popfest am Eröffnungstag einlöst. Wir wollen ihn eh nicht, lieber den von morgen. Bis später, am Karlsplatz.

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