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Sophia Blenda Karlskirche Popfest 2022

Christian Stipkovits

fm4 festivalradio

I think I’m having fun tonight

Sophia Blenda, Rojin Sharafi, Dagmar Schürrer und Cid Rim beenden das Popfest 2022 in der Wiener Karlskirche. Festivalabschlussnotizen.

Von Lisa Schneider

Und wir sitzen wieder in der Kirche, müde und glücklich. Immer noch der bestmögliche erste Satz, ihn über den letzten Popfestabend ins Internet zu schreiben. Weil es ein Privileg ist, nicht wegen Jesus und Co oder der harten Holzbänke, der beeindruckenden Architektur mit all den Fialen, Pilastern, der Kanzel, dem Hochaltar und der Kuppelbekrönung, sondern weil man hier seit Donnerstagabend für unzählige Konzerte mit nichts bezahlt hat als ihrer und seiner Anwesenheit. Pop ist für alle da, oder: Das Popfest ist für alle da.

Seitdem der damals 15-jährige Oskar Haag letztes Jahr seinen ersten Auftritt Richtung neuer Pop-Superstar gespielt hat, kreisen die Gedanken darum, wer dieses Plätzchen heuer wird einnehmen dürfen. Es ist natürlich Sophia Blenda, die ganz im Sinne der noch zu lüftenden Popfest-Geheimnisse Musik schreibt, die immer ein bisschen Mysterium bleibt. Das schaffen wenige.

Karlskirche Tag 4 Popfest 2022

Christian Stipkovits

Sophia Blenda eröffnet die Popfest-Andacht in der Karlskirche, sie tritt mit voller Bandbesetzung auf. Vero Adamski spielt Klavier und Bratsche, Sanna Lu Una bedient Sampler und leiht backing vocals, Philipp Mülleder spielt Keys und Schlagzeug und Sophia Blenda sitzt am Klavier, steht am Synthesizer – und singt. „Ich glaub’, ich hab’ in meinem Leben noch nie so geschwitzt wie heute“, sagt sie etwas atemlos nach den ersten Songs ins Mikrophon. Es liegt nicht (nur) an den hellen Strahlern, sondern vor allem am In-Ear, das nicht ganz so funktionieren will.

Schon für ihre Band CULK hat Sophie Löw hervorragende Texte geschrieben, wer aber wissen will, wie Dringlichkeit in zeitgenössischer Kammerpopmusik klingt, muss sich die ihres Soloprojekts anhören. Das ist die Art von Musik, bei der man sich wünscht, dass in der Youtube-Videoversion den kleinen, schwarzen Pünktchen und dem Wort „mehr“ die Lyrics folgen, auf dass man ihnen folgen kann. „Bohrende Hoffnung / Auf meiner von dir bedrohten Haut / bedeckender Hochmut / deiner Augen, deren Sicht mir die Heimat in meinem Körper raubt“, singt Sophia Blenda im Lied „BH“. Das ist Politik und eingedickte Wirklichkeit, das ist, was gute Lyrik kann: sich ohne Floskeln vorgraben zum Kern der Sache.

Wie oft wird gescherzt und getratscht darüber, wie zach und schroff die deutsche Sprache sein kann, jedenfalls ist sie nicht die einfachste, in ihr über Liebe, Leiden, Leben zu sprechen und zu schreiben. Das kippt nicht selten ins Platte. Unabhängig davon wird den wenigsten deutschsprachigen Newcomer Acts der internationale Durchbruch gelingen. Sophia Blenda hat mittlerweile bei der deutschen Niederlassung von PIAS Recordings unterzeichnet, dort sind auf internationaler Ebene Acts wie Agnes Obel, Editors, Roisin Murphy oder Soap&Skin vertreten. Keine Sorgen also dahingehend.

„Die neue Heiterkeit“ heißt das erste Album von Sophia Blenda, das da eben bei PIAS Germany Mitte August erscheinen wird. Dinge wie „Album des Jahres“ werden in Kreisen jetzt schon je nach Charakter gemurmelt oder hinausgeschrien, auf beide Arten ist es wahr. Das ist große Musik.

„Das ist besser als jede Messe, in der ich je war“, flüstert ein Mensch einem anderen Menschen ins Ohr. Viele geeichte Popfest-Besucher*innen sind am Sonntagabend da. Aber auch ein paar Touristen, die zufällig in die endlich anders und außergewöhnlich inszenierte Kirche gestolpert sind. Was man nicht kennt, versteht man live noch am allerehesten. Den Rest übernimmt hier besagtes, gutes Geheimnis und das multifunktionale Klavierspiel: Hypnose und Antrieb. Die Höhepunkte von Sophia Blendas Konzert kommen einer totalen emotionalen Überforderung nahe. „Do gspiast di“, würde ein lieber Freund an dieser Stelle sagen. Beim Aufwachen nach einer durchzechten Nacht, beim so richtig arg Verliebtsein, dann, wenn das Herz bricht, und eben beim Zuhören bei Sophia Blenda.

Manchmal verkennt sie die Sprachlichkeit / Vergangenheit überholt die neue Offenheit / Offen bleibt, wer in die Zukunft greift /Vermessen bleibt Appell an die vermeintlich große Sicherheit

So lautet es im Titelsong des Albums „Die neue Heiterkeit“, auch er ist in diesem Liveset vertreten. Sophia Blenda kann in der Karlskirche spielen, Sophia Blenda könnte im Lesegarten beim Bachmannpreis sitzen. Das ist die intellektuelle Pop-Spitzenklasse, die ihr euch verdient habt (die platte deutsche Sprache, remember?). „Heiterkeit ist Regsamkeit, Bewegung, Leben“, hat die österreichische Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach geschrieben, oder aber, bleiben wir bei Ingeborg Bachmann: „Nichts Schöneres unter der Sonne als unter der Sonne zu sein“. Sophia Blenda führt es weiter in: „Die Heiterkeit hole ich mir selbst“. Da ist kein Zynismus, das ist die Zukunft, in die wir greifen sollen.

Existenzielle Gedanken also in der Karlskirche, wann soll es besser passen als am letzten Festivalabend, an dem der Kopf, vermutlich verkatert, sehr gern die eigenen Seelenabgründe absucht. Die Empore leuchtet in Farben, die dieses seltsame Weh, sich des Moments und des oben erwähnten Privilegs bewusst zu sein, unterstreichen. Blau, rot, weiß. Es ist nicht kalt.

Publikum am 2. Popfest Tag 2022 bei EsraP

Patrick Wally

Und hier gibt’s noch Bilder und Berichte von Tag 1, Tag 2 und Tag 3 am Popfest 2022.

Plakativität hat viel Platz im Pop. Weil sie laut ist und unangenehm sein kann, weil sie hilft, selbst dann, wenn sie nicht immer der musikalischen Sache dient. Weil sie ein Über-den-Rand-Schauen sein kann, ein Raus-aus-der-Bubble. Wenn man es aber so gut macht wie Sophia Blenda, braucht es keine Aufdringlichkeit. Sie schreibt nicht nur über Selbstermächtigung und Schwesternschaft, sondern auch über Ängste und aufgezwungene Resignation. Gleichgesinnte sitzen hier in der Kirche, die meisten denken politisch wohl ähnlich, aber Sophia Blenda schreibt nicht nur für sie und sie schreibt auch nicht nur für ihre Generation. Auch viele, die jetzt nicht mehr jung sind, profitieren immer noch nicht von den großen Wörtern Feminismus und Emanzipation. Mit besagter Angst, die da nie zwischen, sondern immer wirklich in den Zeilen steht, sagt sie: Wir sind noch lang nicht da, wo wir hinmüssen. So gesehen ist der Auftritt von Sophia Blenda das inklusivste Konzert von vielen inklusiven Konzerten am Popfest 2022.

Dalia Ahmed und Andreas Spechtl Karlskirche Popfest 2022

Christian Stipkovits

Als „peaceful“ nämlich bezeichnen auch die diesjährigen Kurator*innen Dalia Ahmed und Andreas Spechtl ihre Beobachtungen an der Schnittstelle von Künstler*innen und Publikum, als ein „aufeinander Schauen“. Da war Gedrängel, die bespielten Säle etwa in der TU waren teilweise übervoll, was zu gleichen Teilen schön und mühsam war. Noch nicht der breiten Masse bekannte Acts wie Liz Metta oder Earl Mobley stehen hier vor einem Publikum, für das sie in der Größenordnung zuvor noch nicht gespielt haben. Eine Tatsache, die sich am Wochenende oft wiederholt hat, also sprechen wir doch kurz darüber: Das Popfest 2022 hatte keine Headliner, das Popfest 2022 hatte nur Headliner. Die Kurator*innen haben mit den Erwartungen der Besucher*innen experimentiert, indem die „großen“, wie etwa die Abschlussslots auf der Seebühne, von Acts besetzt waren, die viele Besucher*innen erst für sich entdecken mussten. Es ist schon auch eine Entscheidung, sich auf Unbekanntes einzulassen, aber immerhin hat hier niemand für seine Lieblingsband bezahlt.

Wenn dann aber W1ZE am ersten Abend die lautesten, schönsten Publikumschöre anzettelt und plötzlich die vorher ruhigsten Menschen „I’m the realist“ mitplärren, oder wenn Pop-Alleskönnerin Farce donnernd laut ihre Neuinterpretationen von Sixpence None The Richers „Kiss Me“ oder Depeche Modes „Enjoy The Silence“ (bei Farce feat. Soap&Skin „Thee Silence) in die Nacht schickt, beginnt die Schlange dann doch, an ihrem eigenen Ende zu knabbern. Da wären sie ja eh, die Hits, neu gedacht und trotzdem bekannt genug, Gewohnheit ist Beruhigung und Ankommen.

(Die schönste Euphorie schickt während unserer FM4 Livesendung Kollege Kristian Davidek in wenigen Worten durch den Whats-App-Äther: „Farce kombiniert Melancholie mit Antrieb, das gibt’s überhaupt nicht. Dann noch dieser 80er Pet Shop Boys und Depeche Mode Vibe, ich bin fertig.“)

Die Gedanken schwirren also schon merklich, nach vier Tagen Festival und vier Tagen Erinnerungen, einmal aber noch zurück in die Karlskirche: Ganz ähnlich wie bei den Vorabendkonzerten von Tony Renaissance und Mala Herba im Karlsgarten kann man sich beim gemeinsam erdachten und erarbeiteten Set von Rojin Sharafi und Dagmar Schürrer zurückfallen lassen, statt in die Wiese eben in die Kirchenbänke, statt Wolken am Himmel eben die aufgemalten Freskowolken beobachten.

„Apokalypse und Revolution“ heißt das Thema der audiovisuellen Performance, das ist ein schöner, inhaltlicher Querverweis zum letzten Album von Ja, Panik, hat musikalisch damit sonst aber wenig zu tun. Die Apsis zuckt unter mal figurativen, mal abstrakten Visuals, davor steht Rojin Sharafi und spielt experimentelle Ambientmusik so feinsinnig und konzentriert, man könnte glauben, das ist die totale Improvisation. Ob es aber nicht vielleicht besser gewesen wäre, ihren mit Sophia Blendas Platz im Line-up zu tauschen, zum Herantasten und Hineinrutschen in den letzten Musikabend am Popfest.

Dann steht, kurz nach 23 Uhr, Cid Rim als der tatsächlich allerletzte Act des Festivals auf der Bühne. Es ist immer eine gute Sache, wenn ein Schlagzeug der Dreh- und Angel- und Fixpunkt eines Livesets ist. Menschen werden tanzen auf den kalten Marmorböden links und rechts der Seitenaltäre.

Wir hören hinein in sein aktuelles Album „Songs from Vienna“, und das ist so doppeldeutig schön wie alle Annahmen, die hinterfragt werden wollen. Diese Lieder sind nicht allein in Wien entstanden, sondern beim reisefreudigen Clemens Bacher auch gern einmal irgendwo zwischen London und Los Angeles. Damit ist dieses Album, ist der Auftritt von Cid Rim, bei dem er Schlagzeug, Synthesizer und Mikrophon solo bedient, als ob er den Begriff Multitasking erfunden (oder das heurige Popfest-Tier, den Oktopus, sehr ernst genommen) hätte, sogar an sich ein Popfest in a nutshell.

Das Popfest ist natürlich ein Festival für und über und mit der österreichischen Musikszene, für Nationalismen ist da 2022 kein allzu großer Platz mehr. Friedberg sind aus London angereist, salute ist in der Welt und in der Welt der Clubs überall zuhause. Sakura kommt ursprünglich aus Hongkong und Earl Mobley lebt aktuell in Berlin. EsRAP haben mit „Tschuschistan“ den eigenen Staat ausgerufen, und ohne Jamaika kein Soundsystem. Die Liste könnte ewig, diese Zeilen sind das eh schon ein bisschen, und sollen es nicht weitere sein.

Wir sehen uns am Popfest 2023.

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